Mein Lockdown-Tagebuch (4): Martin Schult und der Corona-Countdown

"Noch zwölf Rollen, noch neun Rollen, noch vier..."

24. März 2020
von Börsenblatt
Martin Schult kümmert sich beim Börsenverein um den Friedenspreis, in seinem zweiten Leben ist er Autor. Corona hat ihm eine Schreibblockade beschert, aber auch ein neues Wort geschenkt: Soloselbstständige. Teil vier unserer "Lockdown-Tagebücher", die als ganz persönliche Krisenbegleiter gedacht sind - geschrieben von Büchermenschen.
Noch zwölf Rollen …

Heute vor zwei Wochen: Ich schicke die Unterlagen über die vorgeschlagenen Kandidat*innen für den diesjährigen Friedenspreis an den Stiftungsrat. Damit verknüpfe ich die Frage, wie wir es mit den Sitzungen halten wollen. Die meisten der Jurymitglieder zeigen sich zuversichtlich, dass wir uns Anfang April treffen können. Wir vertagen die Entscheidung auf die nächste Woche.

Nachmittags erreicht mich die Nachricht eines befreundeten Schriftstellerkollegen. Er habe sich bei einem Poesieworkshop mit dem Virus angesteckt, was nur im ersten Moment kurios klingt. Er hat den Kurs geleitet. Ob ich für ihn einkaufen gehen könnte – Obst, Gemüse, Nudeln und am besten auch Klopapier? Die letzten beiden Wünsche kann ich ihm nicht erfüllen. Die Regale sind leer. Dafür stellte ich ihm zwei von unseren Rollen vor die Tür.

Am Abend wäre die Leipziger Buchmesse eröffnet worden. Ich sitze stattdessen zu Hause und überarbeite das Exposé meines nächsten Romans. Hin und wieder schaue ich auf die Webseite vom Johns Hopkins Institute: 1.900 Infizierte in Deutschland, weltweit 125.900 …

Dann fällt mir plötzlich ein, wie ich mit dieser seltsamen Zeit umgehen könnte: Es ist wie Zwischen den Jahren, die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester, wenn wir vor dem Fernseher sitzen, Kekse futtern und die alten Spielfilme schauen.

Noch zehn Rollen …

Zwei Tage später treffen wir die Entscheidung, dass meine Kolleginnen von nun an zu Hause arbeiten. Da ich mit dem Fahrrad zur Arbeit fahre, halte ich im Büro die Stellung und kümmere mich um die technischen Finessen.

Abends schicke ich das Exposé und die ersten Manuskriptseiten als Textprobe an meinen Agenten. Er schreibt zurück, dass auch er und seine Kolleg*innen sich ins Homeoffice begeben.

145.200 Infizierte sind es nun weltweit, und einer von ihnen, mein Schriftstellerfreund, sitzt in seiner Wohnung und kocht den Reis, den ich ihm vorgestern statt Nudeln besorgt habe. Er hat nur leichtes Fieber. Bald aber wird die Nachricht vom ersten Toten kommen, den man kennt. Ich ertappe mich dabei, dass ich überlege, nochmal zum Friseur zu gehen.

Noch neun Rollen …

Am Wochenende redigiere ich mein bisheriges Manuskript zum x-ten Mal. Es wird Zeit, dass mir das Virus normal wird, damit ich wieder kreativ werde. Deswegen nehme ich mir drei Dinge vor:

1. Ich nenne das Virus jetzt der Virus, wie einen früheren Freund meines Schwiegervaters, ein Inder mit Turban. Ich kenne ihn nicht, aber er soll sehr nett sein.

2. Ich suche im Spätkauf um die Ecke nach einer Flasche Corona-Bier. Leider ausverkauft.

3. Ich ignoriere die Klopapierfrage, nachdem mein kranker Freund anbietet, uns eine der beiden Rollen zurückzugeben. Mensch, wir haben doch noch neun!

Noch acht Rollen …

Die Woche beginnt mit einem Anruf meines Freundes. Der Schlüssel für seine neue Wohnung, in die er ja nun erstmal nicht einziehen könne, müsse zur Nachbarin geschickt werden. Er habe ihn gründlich desinfiziert. Als ich den ebenfalls desinfizierten Umschlag vor seiner Tür abhole, ziehe ich trotzdem Handschuhe an. Könnte man den Virus doch sehen! Hätte er doch wirklich einen Turban! Der Beamte in der Post erzählt mir, dass er sich jeden Abend von innen desinfiziere. Alkohol würde auch helfen, habe er gelesen.

Auf Arbeit: Im Juni soll die neue Friedenspreiswebseite online gehen. Dafür gibt es einiges vorzubereiten, zum Beispiel alle Tondokumente zu kopieren und die einzelnen Reden zu schneiden. Ich bleibe bei Ernst Bloch (1967) hängen. Der letzte Satz seiner Rede passt, auch wenn es um etwas ganz anderes geht: Und wenn die Verhältnisse die Menschen bilden, so hilft nichts als die Verhältnisse menschlich zu bilden; es lebe die praktische Vernunft!

Nach der Arbeit radele ich am Supermarkt, an der Drogerie und am Bioladen vorbei – nirgends Klopapier. Von wegen Vernunft.

Abends versuche ich zu schreiben. Es klingt belanglos. Also Fernsehen mit 7.300 Infizierten um mich herum. Wir alle schauen der Bundeskanzlerin zu und fühlen uns besser. Sonst hält sie ja nur zu Neujahr eine Ansprache im Fernsehen. Normalerwiese ist dann Zwischen den Jahren vorbei.

Noch sieben Rollen …

Bundesweit müssen die ersten Buchhandlungen schließen. Mein Berliner Buchhändler überlegt, die Bestellungen per Fahrrad auszufahren. Ich kaufe bei ihm den neuen Lutz Seiler – ein sogenannter Wenderoman. Nach den ersten Kapiteln lege ich das Buch weg. Er schreibt so gut.

Die Entscheidung, ob die Jury-Sitzungen für den Friedenspreis stattfinden können, braucht nicht mehr gefällt zu werden. Wir einigen uns auf Verschriftlichung und kurze Videokonferenzen. Nur bei der dritten Sitzung wollen wir es noch offenlassen. Die ist noch lange hin.

Die Friedenspreisverleihung ist sowieso erst in sieben Monaten. Sie wird stattfinden, egal ob nur im Fernsehen und im Radio oder auch in der Paulskirche. Dafür werde ich alles tun und hoffe, dass der Stiftungsrat so viel Weitsicht beweist, jemanden zu wählen, die oder der in mehr als einem halben Jahr die richtigen Worte findet.

12.300 Infizierte in Deutschland. Die Medien berichten über die Skigebiete in Tirol, in denen sich unglaublich viele Touristen, zum Beispiel fast alle Erkrankten auf Island, angesteckt haben.

Noch sechs Rollen …

Mein Buchhändler teilt mit, dass er seinen Laden nun doch auflassen darf. 15.300 Infizierte und Millionen in freiwilliger Quarantäne – die sollen nicht nur Fernsehen schauen (so wie ich), sondern lesen (so wie ich gerade nicht mehr). Ich überlege, ob ich mich wegen meiner Ausbildung zum Pflegehelfer während des Zivildienstes freiwillig melden soll. Aber das ist dreißig Jahre her. Auf meiner Urkunde steht Pfleghelferin, weil es damals noch keine männliche Berufsbezeichnung gegeben hat. Damals habe ich – ok, durch Zufall – das Leben eines Tunesiers mit Darmverschluss gerettet. Es hat sich gut angefühlt.

Heute im Büro habe ich Alexander Mitscherlich (1969) bearbeitet. Der letzte Satz seiner Rede passt ebenfalls: Wie die Welt auch aussehen mag, bewohnbar wird sie nur bleiben, solange wir Glück und Unglück des Einzelnen nicht aus dem Auge verlieren.

Im Drogeriemarkt stehen Schilder, dass jeder Kunde nur maximal zwei Packungen Klopapier kaufen darf. Die Regale sind leer …

Noch fünf Rollen …

Das Wochenende: einkaufen, den Balkon bepflanzen, spazieren gehen. Vor ein paar Tagen hat man sich dabei noch angelächelt, ist man aneinander vorbeigegangen. Jetzt schaut man zu Boden. Unsere Katze aber ist froh. Sie mag‘s, wenn wir zu Hause sind.

Von Lutz Seiler habe ich einen Satz geklaut. Die Welt erforderte Konzentration – und Geduld. Sie war wackelig, anfällig, von fragwürdiger Beschaffenheit, aber reparabel. Ich habe ihn ins Präsens gesetzt. Es klingt trotzdem nicht nach mir. Also habe ich den Satz wieder gestrichen. Ob er gerade schreiben kann?

Sonntagabend: Die Bundeskanzlerin ist in Quarantäne. Eine Redakteurin von der taz (!) hat vormittags im Radio sinngemäß gesagt, dass sie sich wünschte, Angela Merkel möge nochmal kandidieren: Was man kennt, gibt Sicherheit. Samstag waren es 22.000 Infizierte, heute sind es knapp 25.000. Die Zahlen steigen nicht mehr so schnell an, aber das könnte auch an der Unvollständigkeit der Daten liegen.

Noch vier Rollen …

Heute am Montag muss die Buchhandlung doch schließen. Also: ein Hoch auf ihren Onlineshop! Ich probiere es aus und bestelle meinen letzten Roman. Der hat sich eh noch nicht so gut verkauft, und lesen muss ich ihn auch nicht mehr. (Wer aber das hier liest, kann sich bei mir melden. Ich schicke ihm oder ihr dann das Exemplar!)

Mein kranker Freund möchte eine bestimmte Sorte Nuss-Nougat-Creme. Doch die bekannte Marke ist ausverkauft. Schon wieder: Was man kennt, gibt Sicherheit. Ich überrede ihn zu einer Billigsorte. Bei Nudeln und Klopapier sind die Hamsternden ja auch nicht wählerisch.

Auf Arbeit: Vor kurzem haben wir Papierhandtücher bestellt. Ich probiere aus, ob sie noch für etwas anderes taugen. Aber sie sind wie Schleifpapier. Ich bin beim Schneiden der Tondokumente bei Marion Gräfin Dönhoff (1971) angelangt. Ihr letzter Satz in der Dankesrede: Kurzum: Es wird keine heroische Epoche sein, sondern eine Periode mühsamer Kleinarbeit – aber es lohnt sich, dabei mitzumachen. Ich sollte diese letzten Sätze alle hintereinanderstellen.

Fast 30.000 Infizierte und 123 Tote. Woanders ist es noch schlimmer.

Klopapier!

Meine Frau ruft mich im Büro an. Der Drogeriemarkt hat wieder Klopapier! Sie hat zwei Packungen gekauft, eine für uns, eine für unseren kranken Freund. In zwei, drei Tagen wird er virenfrei und immun sein. Gut so, denn irgendwann wird er wahrscheinlich für uns einkaufen müssen. Sofern er dann noch nicht umgezogen ist. Aber wer sollte ihm dabei helfen?

Die Regierung beschließt Rettungsschirme, auch für Kleinunternehmen wie viele Buchhandlungen, auch für Soloselbstständige – ein neuer Begriff in meinem Wortschatz. Ich bin nur ein halber, und wenn mein Agent keinen Verlag für meinen Roman findet, habe ich ja noch den Friedenspreis. Meine Frau aber ist Soloübersetzerin. Noch hat sie Aufträge. Hoffentlich sind die Verlage mutig und beweisen Weitsicht.

Vielleicht liegt es am Klopapier, vielleicht am Rettungsschirm, ich habe jedenfalls wieder mal etwas geschrieben. Mein heutiges Ich ist die Summe aller Ichs, die ich jemals gewesen bin. So ein kleiner Virus mit Turban ist schließlich nicht allmächtig.

Wieder zwölf Rollen …

Wochentage sind nicht mehr wichtig, denn jeder Tag fühlt sich irgendwie gleich an. Aber wenigstens ist das Wetter schön. Ich radele gerne zur Arbeit. Mein langes Haar weht dabei im Wind, in meinen Koteletten rauscht es.

Im Büro schaue ich als erstes auf die Webseite des Johns Hopkins Institute und sehe auf der Weltkarte die roten Kreise wachsen. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat sich gemeldet. Man will Ausschnitte aus der Friedenspreisrede von Carolin Emcke (2016) abdrucken. Anfangen! hat sie ihre Rede genannt. Ich schaue mir den letzten Satz an …

Nachtrag:

Der Titel Anfangen! von Carolin Emcke passt. Habe gerade bei der Buchhandlung Uslar und Rai meinen online bestellten Roman abgeholt – mit anderthalb Metern Sicherheitsabstand, das muss man erstmal schaffen. Die Buchhändlerin hat erzählt, die Menschen würden wie verrückt Bücher bestellen. Gestern hätten sie zu fünft die Bestellungen ausgeliefert. Auf Fahrrädern. Durch ein leeres Berlin. In der Sonne. Schön.

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