Kommentar zur "Bild"-Bestseller-Liste

Die Wahrheit über Deutschlands Leser

10. Dezember 2015
von Börsenblatt
"Bild" hat die "wahre Bestseller-Liste" entdeckt – dank Amazon. Geht jetzt ein Beben durch die Branche? Wohl kaum. Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen kommentiert.

Immer dann, wenn ich in der Presse eine Schlagzeile mit dem Wörtchen "wahr" lese, springt bei mir der Falsifikationsmotor an. "Die wahre Geschichte hinter ...", "Die Wahrheit über ...", "Der wahre Soundso ..." – das reizt zum Widerspruch. Und erinnert so sehr an einschlägige Titel der heute so populären Verschwörungsliteratur, dass einen die heutige Schlagzeile der "Bild" gruselt: "BILD druckt die wahre Bestseller-Liste" – in Kooperation mit Amazon.de. Endlich erfahren wir, "was Deutschland wirklich liest – unabhängig davon, ob es sich um Hardcover, Taschenbuch oder E-Book" handelt.

Deutschland liest, was bei Amazon.de zu kaufen ist. Denn Amazon.de ist der Buchhändler schlechthin, könnte man meinen. Auch wenn rund 80 Prozent der Buchkäufer es besser wissen. Und alle anderen Bestseller-Listen, die es bisher gab und in Zukunft geben wird, verfälschen also die Wirklichkeit. "Hast Du schon den neuen Soundso", beginnt doch inzwischen jede Kommunikation mit der Kollegin, die dann nickt: "Ist schon bei Amazon geordert". Amazon, das Synonym für Bücher bestellen, und für alles andere auch, dass es im Einzelhandel nicht mehr gibt – oder? Der stationäre Buchhandel, der gerade im Weihnachtsgeschäft ist – ich bitte Sie, eine quantité négligeable.

Wie nötig müssen es Bild und Amazon.de eigentlich haben, um solch eine plumpe Lüge in die Welt zu setzen? Nein, Lügenpresse wäre der falsche Vorwurf. Es geht um nackte Fakten und Interessen:

  • "Bild" will mehr Leser auf Bild.de locken, denn nur dort ist die komplette Bestseller-Liste mit Preisangaben zu sehen. Focus Online hat das Online-Portal der Zeitung laut aktueller AGOF-Studie in der Gunst der Leser überholt.
  • Amazon.de will das nach Jahren ungehemmter Expansion stagnierende Buchgeschäft ankurbeln. Und es will den Verkauf seiner eigenen Selfpublisher-Titel und Verlagsprodukte forcieren.

In erster Linie, so könnte die entwarnende These lauten, handelt es sich also um ein Marketingbündnis, wie es viele Partner hierzulande miteinander eingehen. Vielleicht, das wäre noch herauszufinden, fließt hier auch ordentlich Geld bei jeder Verlinkung von der Liste auf Amazon.de (denn der Online-Händler, siehe obige Prämisse, ist ja alternativlos).

Ob die Amazon-"Bild"-Liste überhaupt Leser erreicht, die im stationären Buchhandel einkaufen, bleibt abzuwarten. Und auch der typische Amazon.de-Buchkäufer gehört vermutlich nicht zu den Primärlesern von "BILD", sondern eher zu den gut unterrichteten Entscheidern, die sich ein "Bild" der aktuellen Nachrichtenlage verschaffen wollen.

Doch man könnte sich auch um die Zukunft der Leser und Buchhändler sorgen: Was, wenn die Amazon-"Bild"-Liste geschmacksbildend wirkt? Was, wenn der Druck auf die Bücherpreise nun noch mehr wächst (dank billiger Selfpublishing-Titel)? Was, wenn der Sinn für Qualität verlorengeht, für die viele Verlage einstehen? Was, wenn Michael Krüger mit seiner Einschätzung recht behielte, dass die Menschen schlechte Bücher lieben?

Die Antwort könnte aber auch ganz nüchtern ausfallen: Amazon-Rankings gibt es seit eh und je. An den Kaufgewohnheiten im gesamten Buchhandel hat dies nichts oder wenig verändert. Ob sich die Kooperation mit "Bild" in den Verkaufsreports der Verlage als messbarer Ausschlag nach oben niederschlagen wird, ist noch längst nicht ausgemacht.