Aus Gisela wurde Gisele

12. Dezember 2008
von Börsenblatt
Zum 100. Geburtstag der Porträtfotografin Gisele Freund.
Begegnungen mit Gisele Freund konnten unangenehm ausfallen. Als deutsche Jüdin, schon seit den dreißiger Jahren in Paris lebend, öffnete sie sich im Gespräch bisweilen erst allmählich ihrer Muttersprache, die sie mit dazugehörigem Idiom in Berlin erwarb. Skepsis, Vorbehalte, ganz selten Schroffheit prägten ihr Gesprächsverhalten ganz offensichtlich: zweifellos ein politischer Mensch, ein politisches Opfer jener jüngsten deutschen Geschichte, die nicht nur zum immensen kulturellen Blutverlust geführt hat. 1908 wurde Gisele Freund im Berliner Stadtteil Schöneberg als Tochter eines Textilfabrikanten geboren, der ihr zum Abitur 1927 eine Leica schenkte. Ihre Fotografien, und das sind bei ihr vor allem Porträts, wirken eher unpolitisch - falls sich dies über das bildjournalistische Foto-Medium, das auf Dokumentation und Zeitgenossenschaft zielt, überhaupt sagen lässt. Indes verstand sie sich als porträtierendes Kind August Sanders und wollte soziologisch sehen: Ein Fotografieren, das den vorausgehenden diskursiven Prozess einschließt. Genauer bedeutet dies das Einbeziehen von Zeitalter, Milieu und psychologischen Hintergrund des Porträtierten. Aus Gisela wurde Gisele. Drei Jahre nachdem sie aus Deutschland in Richtung Paris emigriert war, schloß sie 1936 ihre Dissertation an der Sorbonne ab, nachdem sie zuvor manche Stunde mit Walter Benjamin am selben Tisch in der Bibliotheque Nationale gesessen hatte. Ebenfalls 1936 wurde sie, durch Heirat, französische Staatsbürgerin. Vor 1933 studierte sie in Frankfurt bei Adorno und Horkheimer, Elias und Mannheim. Erst ab 1968, als man in Deutschland Gisele Freund und das Medium Fotografie insgesamt allmählich wahrzunehmen begann, wurde diese Untersuchung hierzulande unter dem Titel ‘Fotografie und bürgerliche Gesellschaft’ zugänglich. Die Theorie der Fotografie machte sie zunächst bekannter als der praktische Blick durch den Kamera-Sucher : Eine Foto-Lehre bei Man Ray scheiterte am Geld, die Bauhaus-Schülerin Florence Henri attestierte Unfähigkeit - und doch veröffentlichte das ‘Time Magzin’ am 8.Mai 1939 ein Titelfoto-Porträt von James Joyce. Die farbpastose Aura dieser Aufnahme, die am Beginn des Zeitalters moderner Farbfotografie steht, wurde zu ihrem Markenzeichen und öffnete die Redaktionstüren von Life, Paris Match, Time und der Picture Post. Mit diesem im wortwörtlichen Sinne künstlerischen Bildnismachen hat Gisele Freud unsere teils sogar inhaltlichen Vorstellungen von zahlreichen intellektuellen und ästhetischen Vertretern dieses Jahrhunderts geprägt: die Colette und Jean Cocteau, Walter Benjamin und Anre Malraux, Jean-Paul Sartre und der greise Matisse, Simone de Beauvoir und Virginia Woolf. Zum Porträt der Virginia Woolf äußerte sie einmal : „ ...Dieser kurze, blitzartige Augenblick, als Virginia sich vergaß. Ich habe immer versucht, sichtbar zu machen, was Menschen an Gutem in sich tragen. Aber dieses Bild ist sicher das beste, was zu machen mir vergönnt war “. Das Gesicht hinter der Maske finden: So könnte die Bild-Strategie Gisele Freunds lauten. Andere Bild- und Lebensgeschichten gibt es etwa im Zusammenhang mit einer ihren späten, sicherlich hochauflagigen Fotografien. „Was macht denn das Enkelchen?“: Mit dieser Frage entlockte sie dem verschlossen-stolzen Mitterand ein kleines Lächeln und schuf somit das offizielle Präsidenten-Porträt für die französischen Amtsstuben. Doch auch gerade Unfreundlichkeiten, kritische Stellungnahmen prägen diese herausragende fotografische Vita. Nach Argentinien floh sie während der deutschen Besatzung in Paris. Dort hinterfragten ihre Fotografien ganz offensichtlich die offizielle Milde der Evita Peron, jenes gut vermarkteten „Engels der Armen“. McCarthy ließ sie dafür noch 1954 büßen: die Einreise in die USA wurde verweigert. Zu dieser Zeit arbeitete sie für die renommierte Foto-Agentur „Magnum“, nach dem Zweiten Weltkrieg von Henri Cartier-Bresson gegründet. Die Fotografie sei heute die verbreitetste Sprache der Zivilisation, schrieb Gisele Freund am Ende von ‘Photographie und Gesellschaft’. Doch gerade Gisele Freund, die im März 2000 in Paris im Alter von 92 Jahren starb, schuf eine einzigartig unverwechselbare Artikulationsform, der Wahrheit eines Individuums fotografisch möglichst nahe zu kommen. Als sie den französischen Kulturminister Andre Malraux 1967 in versonnener Zwiesprache mit seiner Katze im Garten von Versailles fotografierte, so war dies ein absoluter Augenblick des Lebens. Nur acht Jahre später war derselbe Mensch von Krankheit gezeichnet. Sein Blick vom Sessel hinauf in die Kamera Gisele Freunds ist ein absolutes Bild über den Tod, der schon im Zimmer war. Neue Bücher zum Jubiläum: Die Neuauflage von: Gisèle Freund: »Photographien & Erinnerungen«. Schirmer / Mosel. Mit autobiographischen Texten und einem Vorwort von Christian Caujolle. 224 Seiten, 205 Farb- und Duotonetafeln. 49,80 Euro und der Titel: Bettina de Cosnac: »Gisèle Freund. Ein Leben«. Arche 2008, 304 S., 24 Euro Gisele Freunds Werke sind zur Zeit in Berlin in zwei Ausstellungen zu sehen: bis zum 8. Februar 2009 präsentiert das Ephraim Palais 36 Berlin-Fotografien aus den Jahren 1957 - 1962. bis zum 17. Januar 2009 werden im Willy Brandt Haus Reportagen und Portraits zum 100. Geburtstag gezeigt.