Über das Leben als Stellvertreter

Zweite Geige

23. März 2017
von Börsenblatt
Wenn der Chef krank ist oder im Urlaub, muss ein Stellvertreter Entscheidungen treffen. Diese Rolle ist gar nicht so einfach, findet Christian Sauer. Und hat gleich ein ganzes Buch darüber geschrieben. 

Sieben Jahre lang war Christian Sauer stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift "chrismon". Doch immer wieder fragte er sich: Wie geht das eigentlich – Stellvertreter sein? Weil ihm damals ein Ratgeber fehlte, hat der Journalist selbst einen geschrieben: "Der Stellvertreter. Erfolgreich führen aus der zweiten Reihe" (Hanser, 184 S., 30 Euro). Damit dürfte Sauer, der als Coach auch Seminare zu diesem Thema gibt, einer der ersten sein, der sich den ungezählten Vizes in der Arbeitswelt widmet.

Eine allgemeingültige Definition zu Aufgaben und Rolle des Stellvertreters gibt es nicht. Jeder muss selbst rausfinden, was er soll und darf. Sauer nennt es "den eigenen informellen Spielraum prüfen". Stellvertreter zu sein ist weit mehr als nur ein Titel auf der Visitenkarte, für den es im Zweifelsfall ein bisschen mehr Geld gibt. Glaubt man Sauer, ist die zweite Geige "deutlich komplizierter als jede klassische Führungsauf­gabe". Manchmal ist es sogar "ein Höllenjob", weil man ohne Disziplinargewalt und mit oft unklaren Kompetenzen Führungsaufgaben erledigen und den Betrieb reibungslos am Laufen halten soll, wenn der Chef nicht da ist. Es sei denn, man hat einen eigenen Aufgabenbereich.

Zwar haben Stellvertreter nicht die volle Verantwortung, doch ihre Sonderstellung im Team bringt sie nicht selten in eine "undankbare Sandwich-Position zwischen den Ansprüchen von oben und von unten". Sie sind weder richtig Chef noch richtig Belegschaft, mit dem Effekt, Misstrauen und Konflikten von beiden Seiten ausgesetzt zu sein.

In Checklisten und klug aufgeteilten Kapiteln gibt Sauer Tipps, wie man sich durch diesen Zwitter-Job manövriert, von der Klärung der Rolle bei Übernahme des Postens bis zur langfristigen Karriereplanung aus der zweiten Reihe. "Verzichten Sie auf zu große Nähe zum Team", lautet einer seiner Ratschläge. "Ein Kuschelkurs oder gemeinsames Jammern über den Chef verschaffen Ihnen keinen Respekt." Auch wenn Stellvertreter aus Sicht von Mitarbeitern gern eine Art Klagemauer darstellen.

Er erklärt die feinen Unterschiede zwischen "i. V." und "i. A." und gibt Empfehlungen für Teambesprechungen in An- oder Abwesenheit des Oberbosses. Gespräche sind das wichtigste Führungsinstrument für Stellvertreter, weiß ­Sauer. Erst recht in Zeiten, in denen Hierarchien Stück für Stück einem neuen Führungskonzept weichen: dem Führen ohne Macht. Stellvertreter praktizieren das jeden Tag, sie müssen lernen, ohne Machtdemonstrationen auszukommen. Durchsetzungswillen und Dominanz sind für ihren Job eher hinderlich, das bringt sie in Konkurrenz zum Chef.
Andererseits ist ihre Position dadurch auch ein gutes Trainingscamp für zukünftige Aufgaben.

Allerdings ist der "Kaminaufstieg" auf den Chefposten schwieriger als ein Quereinstieg und erfordert Fingerspitzengefühl. Der Neue – der ja eigentlich gar nicht mehr so neu ist – muss eingefahrene Wege verlassen und von den Kollegen in seiner neuen Rolle akzeptiert werden. Und er (oder sie) muss selbst bereit sein, den »Schutzraum Stellvertretung zu verlassen« und sich mit "den dunklen Seiten der Macht" auseinanderzusetzen. Nicht jeder will oder kann das. Manche Stellvertreter treten daher irgendwann wieder in die Reihen des Teams zurück.

Die ganz Harten putschen vielleicht sogar, statt auf den Tag des naturgegebenen Aufstiegs zu warten. Sauer warnt jedoch davor, weil eine Büro-Revolte selten gelingt. Und selbst wenn doch, halten sich die Emporkömmlinge meist nicht lange, da ihnen der Makel der Illoyalität anhaftet.
Trotz allem: Stellvertretung hat Zukunft, findet Christian Sauer. Als Trainingsfeld für Talente. Daher sei jedes Unternehmen gut beraten, diese wichtige Ressource niemals einzusparen.