Öffentliche Debatte und editorische Zweifel

Heidegger und die "Schwarzen Hefte"

27. April 2015
von Börsenblatt
In der Diskussion um die sogenannten "Schwarzen Hefte" des Philosophen Martin Heidegger sind zuletzt Zweifel am Umgang mit belastenden Stellen in seinen Werken aufgekommen. Für den Klostermann Verlag, in dem die Martin Heidegger Gesamtausgabe erscheint, ist dies Anlass für eine kritische Selbstprüfung, an der sich auch die Herausgeber der Werke aus den 30er und 40er Jahren beteiligen.

Seit Martin Heideggers „Schwarze Hefte“ in der Diskussion sind, ist der Nimbus des großen Denkers löchrig geworden. Die auch von der eigenen Familie gestrickte Legende, der Philosoph habe 1934 seine Sympathie für den Nationalsozialismus als Irrtum erkannt und sei deshalb vom Amt des Freiburger Universitätsrektors zurückgetreten, ist mit dem Erscheinen des jüngsten Bandes der Gesamtausgabe (97), den „Anmerkungen I bis V“ aus den Jahren 1942-1948, ein für alle Mal widerlegt.

Die Aufzeichnungen zeigen, dass Heidegger nicht nur während des gesamten „Dritten Reichs“, sondern auch darüber hinaus Überzeugungen vertrat, die man in Übereinklang mit nationalsozialistischen Positionen bringen kann. „Heidegger hat mit dem Nationalsozialismus bis 1945 nicht vollständig gebrochen“, sagt Verleger Vittorio E. Klostermann.

Heidegger versucht an mehreren Stellen der „Anmerkungen“, seinen „Irrtum“ zu relativieren: Er ordnet den Nationalsozialismus als (untauglichen) Versuch ein, die seiner Meinung nach diskreditierte Metaphysik zu überwinden: „Der Irrtum von 1933 bestand darin, dass nicht erkannt wurde, wie wenig vorbereitet die Kräfte, wie wenig geschichtlich geeignet, wie wenig frei sie trotz des notwendigen Dogmatismus sein konnten.“

Bei der Lektüre der „Anmerkungen“ gewinnt man den Eindruck, dass Heidegger zentrale Begriffe der NS-Propaganda „seinsgeschichtlich“ auflädt und auf eine terminologische Höhe hebt, in der sie scheinbar der kruden politischen Ebene und dem Diktat der Fakten enthoben sind. Nur so kann er sich zu monströsen Sätzen versteigen, die, wie Jürgen Kaube es kürzlich in der „FAZ“ formulierte, den „kompletten Verlust seiner philosophischen Urteilskraft“ markieren: „Wenn erst das wesenhaft ‚Jüdische‘ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht; gesetzt, daß das ‚Jüdische‘ überall die Herrschaft an sich gerissen hat, so daß auch die Bekämpfung ‚des Jüdischen‘ und sie zuvörderst in die Botmäßigkeit zu ihm gelangt.“ Mit anderen Worten: Die millionenfache Vernichtung von Juden im Holocaust ging – über den Umweg der nationalsozialistischen Vollstrecker - auf das Konto des „Jüdischen“, das Heidegger zufolge den Abfall vom frühen „Griechentum“, in dem die Bindung an das „Sein“ noch lebendig war, zu verantworten hatte.

Wenn man so will, gleitet Heidegger in seinen Erwägungen in eine seinsgeschichtlich begründete, antisemitische Esoterik ab, die wahnhafte Züge trägt und sich mit historisch-politischen Kategorien kaum bändigen lässt. Was bleibt, ist eine Verstörung, die auch dem Verlag, in dem Martin Heideggers Gesamtausgabe erscheint, und seinen Herausgebern Nervenkraft abverlangt. Nicht nur die Frage, ob die neuen Befunde den Ruf des „Denkers“ endgültig ruinieren könnten, beschäftigt Verleger Vittorio E. Klostermann und Verlagsleiterin Anastasia Urban derzeit, sondern auch die Sorge, ob vor Drucklegung der Gesamtausgabe Passagen eliminiert wurden, um Heideggers Verstrickung zu verbergen.

Vittorio E. Klostermann bezieht sich auf einen editorischen Eingriff, den Peter Trawny, der Herausgeber der „Schwarzen Hefte“, 1998 in Band 69 der Gesamtausgabe auf Anweisung des Hauptherausgebers vornehmen musste. Dort ließ er eine Passage weg, worin „die eigentümliche Vorbestimmung der Judenschaft für das planetarische Verbrechertum“ begründet ist. Diesen Vorgang hat Trawny dann in seinem Buch „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“ (inzwischen in 3. Aufl.) selbst an die Öffentlichkeit gebracht. „Erst im Lichte der ‚Schwarzen Hefte‘ begriff Trawny, dass hier nicht von den Juden als Opfern die Rede war, sondern als der Kraft, die die technische Weltbeherrschung ins Werk gesetzt und somit auch die eigene Vernichtung vorgezeichnet hat“, sagt Klostermann.

Brief an die Herausgeber

Der Verlag hat einen Brief an die 19 für die Werke der 30er und 40er Jahre zuständigen Herausgeber geschrieben, in dem es heißt: „Die Funde der letzten Zeit lassen befürchten, dass nach weiteren Unstimmigkeiten in der Gesamtausgabe gesucht werden wird. Jede Differenz, die von Dritten aufgespießt wird, brächte Verlag und Herausgeber in die Defensive und könnte dem Ruf der Ausgabe insgesamt schaden.“ Deshalb sollten die Herausgeber alle Stellen, in denen sie Abweichungen von der Handschrift oder Streichungen feststellen, dem Verlag zur Kenntnis geben. Dieses Vorgehen als Misstrauensvotum gegen die Herausgeber zu interpretieren, wäre allerdings falsch. Denn es gab auch editorische Zweifelsfälle, die zum Zeitpunkt der Herausgabe nicht ohne weiteres zu entscheiden waren. So findet sich in den Aufzeichnungen Heideggers von der Vorlesung „Hölderlins Hymnen ‚Germanien‘ und ‚Der Rhein‘“, veröffentlicht als Band 39 der Gesamtausgabe, die Abkürzung „N.soz“, die von der damaligen Herausgeberin als „Naturwissenschaften“ transskribiert wurde (Bd. 39, S. 195). Vittorio E. Klostermann zeigt einen Scan der Manuskriptseite, und sofort wird klar: Nur ein sehr geübtes Auge kann dieses Kürzel überhaupt lesen. Heidegger schrieb Sütterlin, und der betreffende Schriftzug lässt durchaus mehr als eine Deutung zu. Vergegenwärtigt man sich zudem die hermeneutische Situation, dann konnte die Herausgeberin zum damaligen Zeitpunkt – lange vor der Publikation der „Schwarzen Hefte“ - nicht notwendigerweise auf die Idee kommen, dass die Abkürzung „Nationalsozialismus“ heißen muss, zumal das Wort im Kontext unvermittelt auftaucht und isoliert dasteht.

Mehr Transparenz soll nicht nur die kritische Selbstprüfung schaffen, sondern auch die Erweiterung des einst von Heidegger minutiös festgelegten Editionsplans. Zusätzlich zu den 102 Bänden der Gesamtausgabe, so Klostermann, wird der Philosoph und Heidegger-Forscher Klaus Held Ergänzungsbände mit weiteren Schriften aus dem Nachlass vorschlagen. Gesperrt bleiben allerdings private Notizen und Korrespondenzen Heideggers mit intimem Charakter.

Ist Heidegger jetzt menschlich und als Philosoph erledigt? Muss die Rezeptionsgeschichte des Autors von „Sein und Zeit“ neu geschrieben werden? Wohnt dem gesamten Denken Heideggers ein latenter Antisemitismus oder zumindest Antijudaismus inne? Rüdiger Safranski, Heideggers Biograf („Ein Meister aus Deutschland“), geht mit dem Problem gelassen um (Interview mit der Süddeutschen Zeitung v. 24. März 2015). Er unterscheidet in Heideggers Werk zwischen solider Rationalitätskritik und primitivem Antisemitismus, die nicht in einem inneren Zusammenhang zu sehen seien. Für Safranski behält vor allem das „genialische Werk der 20er Jahre“ Gültigkeit: „Sein und Zeit“ sowie „Grundbegriffe der Metaphysik“ – für ihn das zweite eigentliche Hauptwerk, in dem Heidegger auf 200 Seiten höchst anregend „das Phänomen der Langeweile durchdringt“.


Mehr zum Thema Editionen und Artikel zu weiteren Themen lesen Sie im Spezial Fachbuch des aktuellen Börsenblatts (18/2015), das am 30. April 2015 erschienen ist.