Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2013

"Fünf Gründe, danke zu sagen"

6. Juli 2015
von Börsenblatt
Literaturkritik ist streitsam - im besten Sinne. So ist es auch Daniela Strigl, die in ihrer Dankesrede für den Alfred-Kerr-Preis nicht nur der Literatur, sondern auch der Literaturkritik viel abverlangt. Was, lesen Sie hier:

I

"Ich habe den Kerr-Preis bekommen, obwohl ich aus Wien bin. (Karl Kraus war aus Wien.)
Karl Kraus hat Alfred Kerr „Feuilletonschlampe“ genannt. Kerr Kraus wiederum „Nietzscherl“ und „Krätzerich“. Hahnenkämpfe, Kabskutschertiraden. Titanentauziehen. Kerr und Kraus, die beiden Juden, schenken einander nichts an antisemitischen Unter- und Übergriffen.
Der tödlichere Polemiker ist Karl Kraus, nach dem kein Preis benannt ist, jedenfalls kein richtiger. Er hat in diesem Zwist das letzte Wort. Zuvor stellt er Kerr bloß, druckt dessen Pamphlet gegen ihn wörtlich in der „Fackel“ ab: „Es ist mein Verhängnis, daß mir die Leute, die ich umbringen will, unter der Hand sterben.“ Tarantinomethode: nicht lange gefackelt und ein Schuß in die Leiche, daß das Blut nur so fontänt, was heißt, Schuß: da wird das Magazin entleert.
Gibt es irgendeinen Grund, dieser brachialen Form von Polemik nachzutrauern? Ja, ihr Unterhaltungswert! Man will ja kein Blutvergießen, aber ein bißchen mehr sachdienlicher Schlagabtausch mit offenem Visier, das wäre schon was. Zumindest in Österreich, zumindest in Wien.
Eins aber war den Kritikerichen Kerr und Kraus gemeinsam: die kniende Haltung vor der Sprache. Aufs biegsamste vereinbar mit dem Von-oben-herab-Blick auf die Dichter. „Dichter haben keine Sprachkraft. Sprachkraft ist in der Kritik.“ Das ist schon ein starkes Stück, Herr Kerr!
Kritik als Kunst, welch ketzerischer Gedanke. Scheniekultig, selbstgenußsüchtig, vermessen, weidermännisch. Aber ein erotisches Verhältnis zur Sprache gäbe der mitunter aseptischen literaturkritischen Beziehungsarbeit ja doch immerhin Würze. Gewiß: sprachliche Selbstbefriedigung mag ärgerlich sein. Das Schlimmste freilich: Langeweile. (Wenn einer sich schreibend mit sich selbst langweilt. Wahrhaftig: das Schlimmste.)


II

Kritiker sind eitel. Kritikerinnen auch. Das Kritisieren ist Beruf und Berufskrankheit zugleich. Der Kritiker weiß alles besser. Er ist ein Rechthaber. Ein Apodiktiker. Und dann hört ihm womöglich gar niemand mehr zu! Das tut weh.
Wir alle sind sehr empfindliche Wesen. Wir alle, die wir mit und von Büchern leben, haben Grund genug, unsere Marginalisierung zu beklagen. Was Wunder, wenn die allgemeine Abwertung der schönen Künste am Selbstwertgefühl der Büchermenschen nagt?
Da sagt einer: „Die Industrialisierung der Literatur ist wie die aller Künste nahezu vollkommen – Außenseiter haben es sehr, sehr schwer. Was die deutsche Buchkritik anlangt, so ist sie auf einem Tiefstand angelangt, der kaum noch unterboten werden kann. Das Lobgehudel (...) hat denn auch zur Folge gehabt, daß die Buchkritik kaum noch irgend eine Wirkung hervorruft: das Publikum liest diese dürftig verhüllten Waschzettel überhaupt nicht mehr, und wenn es sie liest, so orientiert es sich nicht an ihnen.“
Das war Tucholsky, 1931. Und Fontane: „Nichts liegt hier so darnieder wie die Kritik.“ (1883) Heute nennt Klaus Nüchtern die Lage der Kritik „stabil apokalyptisch“. Und ich komme in Versuchung, die Krise der Kritik für eine kritische Strategie zu halten, aus der der Kritiker der Kritik den Distinktionsgewinn eigener Überlegenheit schöpft.
Also: daß es das noch gibt! Einen Preis für Literaturkritik! Dafür muß man dankbar sein, das muntert auf, und Aufmunterung können wir brauchen. Denn persönlich haben wir ohnehin keine Wahl … Wir können uns bloß in Gelassenheit üben. Unser Metier nicht so schrecklich wichtig nehmen.
Vielleicht auch, Kerr hat das gemacht, uns mehr in Nichtliterarisches einmischen. („Kritiker zu sein ist ein dummer Beruf, wenn man nichts ist, was darüber hinausgeht.“) Wir könnten, warum nicht: Kritik als Sprachkritik verstehen. Die Verkleisterung von Kunst mit marktgängig mehrheitsfähiger Moral aufs Korn nehmen. Das druckerschwarze Einheitsdeutsch; die unhinterfragte Übereinkunft; die Ich-bin-auf-der-richtigen-Seite-Pose; die blutleere Rede der politisch Korrekten, grammatisch Inkorrekten, mit sich Zufriedenen. Die sprachgeregelte Heuchelei. Den denunziatorischen Zeigefinger. Was man alles nicht sagen darf. Was man alles nicht denken darf.
Und was hilft das gegen den allgemeinen Niedergang, gegen die Entwicklung auf dem Markt, das elektronische Buch, Kindle, Google, Amazon? Wohl nichts. Vielleicht tröstet Nestroy: „Der Fortschritt ist halt wie ein neuentdecktes Land; ein blühendes Kolonialsystem an der Küste, das Innere noch Wildnis, Steppe, Prärie. Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.“

III

Ein Für-Witz. Vor drei Jahren habe ich die Besetzung der Jury für den Deutschen Buchpreis kritisiert ... Wenn das ein Preis für den ganzen deutschen Sprachraum sein soll, dann reicht es nicht, so habe ich behauptet, wenn von den sieben Jurymitgliedern nur jeweils eines aus Österreich oder der Schweiz kommt. So viel pfadfinderische Energie, so viel literaturflächendeckende Ortskenntnis hat keiner. Ergebnis meines Weltverbesserungsanlaufs: 2010 waren zum ersten Mal die Deutschen in der Jury überhaupt unter sich. Who kerrs? Aber: kaum waren meine Unkenrufe verklungen, bekam die Schweizerin Melinda Nadj-Abonji aus dem kleinen österreichischen Jung und Jung-Verlag den Preis ...
Die Ausnahme beschönigt’s nicht: Es gibt unsichtbare Schranken zwischen den Literaturländern deutscher Zunge, da wie dort kaum bewußt. Debuts werden übersehen, Erfolge auch ... Wer da berühmt ist, lockt dort keinen aus dem Ohrensessel. Und vice versa. Der Mensch ist faul. Der Kritiker ist faul. Die Mühen des Entdeckens werden durch den Lorbeer der Pioniertat nur allzu selten aufgewogen. Der tote Winkel der Wahrnehmung, hängt er von der Verlagsgröße ab? Von der Fernsehberichterstattung? (Der ORF leistet sich ein Literaturmagazin nur quartalsweise.) Liegt es an den bockigen Formen ewiger Avantgarde? Oder an den Themen – der große deutsche, der großdeutsche Roman löst in Österreich und der Schweiz eher gähnende Erwartung aus, und die DDR ist dort so ziemlich passé, der Balkan hingegen vielen hautnah.
Dafür nervt die rituelle rotweißrote Selbstzerfleischung den großen Nachbarn schön langsam, wie man hierzulande sagt, also: jetzt aber bald wirklich. Sie, liebe Leserinnen und Leser, vermag doch eher austriakische Exotik zu locken; der Bastrock unserer Literatur ist die abgrundtiefe Wiener Gemütlichkeit.
Allenthalben indes gibt es Verbündete, die ihr Auge bewaffnen. Die die Kerrner-Arbeit der Landvermessung im ungepflügten Gelände wacker auf sich nehmen. Dafür danke.

IV
      
Ein seltsames Geschäft, die Literaturvermittlung. Vor allem vermittle ich doch lesend zwischen dem Buch und mir selbst. Oder vermittelt das Buch zwischen mir und meiner besseren Hälfte?
Manche Bücher sind schlicht nicht vermittelbar ... Andere will ich gar nicht vermitteln. Viel lieber entmitteln.
Da lob ich mir Kerrs Ehrlichkeit: Man liest und bespricht Bücher aus egoistischen Motiven.
Die Neugier ist ein wesentlicher Antrieb ... die Neugier ist ein schlafender Hund, er, sie muß geweckt werden, deshalb danke ich meinen Eltern dafür, daß sie mir Bücher aus ihrer Bibliothek in die Hand gegeben haben, die mir in jeder Hinsicht zu hoch waren. Aber meistens nahrhafter als der literarische Schulproviant. Meinem Vater danke ich dafür, daß er sich damit abgefunden hat, daß ich nicht Jus studieren wollte. Und dankbar bin ich auch Sigrid Löffler für ihre Artikel im Wiener Wochenmagazin „profil“: Ihre Schärfe hat mir jahrelang den Montag versüßt, hat mir gezeigt, daß das Schreiben über Literatur auch, ja: eine Lust sein kann. Um die nachzufühlen, nachzudenken, muß man keineswegs derselben Meinung sein. Auch Widerspruch ist reizend.
Überhaupt: „Der wahre criticus“, sagt Kerr, „verträgt Pole; wünscht Pole“; mitunter braucht er auch, finde ich, Mut zur Kleinlichkeit, zur Peinlichkeit. (Damit meine ich nicht die Verwechslung von schönen jungen Autorinnen mit schönen Texten, wie sie meist etwas älteren Kollegen im ästhetisch-emotionalen Missenwahl-Wirrwarr gelegentlich unterläuft.) Ich meine die peinliche Rolle des Spielverderbers und Pedanten. Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit sind ja aufs blutsbrüderlichste verschwistert.
Leider kann man nicht alles selber machen. Irgendwann resigniert auch der verbesserungslüsternste Kritikast-Kerr, wenn er zwischen Text und Autor vermitteln muß: „Ich kann nicht jedes Stück noch einmal schreiben.“

V

Zum Kerr-Aus. Sie haben’s gewiß bemerkt, daß ich für meine undankbaren Dankesworte ins schlichte Prunkgewand von Alfred Kerr geschlüpft bin. Ich rede sonst ganz anders.
Die Jury des Kerr-Preises hat durch die gläsernen Grenzen hindurchgeschaut und ihre Aufmerksamkeit auf das nicht ganz so Naheliegende gerichtet; ein Grund mehr, danke zu sagen."