Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2013

"Umsichtigkeit in Meisterschaft" - Laudatio auf Daniela Strigl

6. Juli 2015
von Börsenblatt
Die österreichische Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl ist am Buchmessedonnerstag mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet worden. In seiner Begrüßungsrede schildert Gottfried Honnefelder, warum er Daniela Strigls Mut bewundert - und warum es sich lohnt, zu den Grautönen in der Literatur Farbe zu bekennen.

Verehrte, liebe Daniela Strigl, lieber Paul Jandl,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren,

zu meinen liebsten Anekdoten gehört die Geschichte, wie der Maler Edgar Degas Anfang des vergangenen Jahrhunderts auf die Ankunft des Mediums Telefon reagiert hat. Degas wird von einem wohlhabenden Freund, der soeben stolz in den Besitz dieser neuen technischen Errungenschaft gekommen ist, zum Mittagessen eingeladen. Der Gastgeber hat zuvor seinen Diener angewiesen, er möge ihn während des Essens am Apparat verlangen. So geschieht es. Der Freund geht demonstrativ telefonieren, kommt erwartungsvoll zurück und fragt Degas: „Nun, Verehrter, was sagen Sie dazu?" Darauf Degas: „So, so… das also ist das Telefon? Man schellt Ihnen, und Sie rennen."

Und nun haben wir heute eine Kerr-Preisträgerin, von der ich auf boersenblatt.net lese, dass sie kein Handy hat. Wunderbar! „Eine Bequemlichkeit, die ich mir leiste", sagt sie. Sie sei ja nicht die Feuerwehr und es gebe so selten literarische Notfälle, bei denen man sogleich einschreiten müsse, also müsse man auch nicht ständig erreichbar sein. Wie einleuchtend! Aber warum stelle ich das hier an den Anfang unserer kleinen Feierlichkeit?

Weil ich überzeugt bin, dass das Lesen und das Bewerten von Literatur am besten im Zustand zeitweiliger Unerreichbarkeit gelingt. Die Haltung, sich dem einzelnen Buch ohne Ablenkung zuwenden zu wollen, im stillen Kämmerlein, ohne kollegiale Rückversicherungen: diese Haltung erkenne ich bei der Kritikerin Daniela Strigl. Es klingt darin eine Ruhe und Gelassenheit an, die mir sympathisch ist und die ich auch in ihren Besprechungen zu spüren glaube. Sie urteilt immer ohne Aufregung, aber nie ohne Aufwand. Im Gegenteil, sie arbeitet genau, abwägend, argumentierend. Grautöne, die seit „Shades of Grey" in zweifelhaftem Ruf stehen, werden von dieser Berufsleserin aufs Gescheiteste rehabilitiert. Die Grautöne, die vielen Schattierungen sind es ja doch, die erst den Reiz der literarischen Auseinandersetzung ausmachen.

Noch etwas möchte ich erwähnen, das mich für Frau Strigl einnimmt: Sie ist sich der Verletzungsgefahr bewusst, die allzu scharfe Kritik mit sich bringen kann. Das ist – ich darf das im Kreis der hier versammelten Literaturkritiker sagen – eine menschliche Behutsamkeit im Umgang mit Autoren, der man nur weiteste Verbreitung wünschen möchte. Es geht dabei nicht um Undeutlichkeit, Gefälligkeit oder dergleichen. Von sachfremden Erwägungen sind die Arbeiten Strigls nun wirklich frei. Es geht vielmehr um eine Methode, eine verblüffende Methode, mit der unsere Preisträgerin das Risiko der Verletzung in Grenzen zu halten versteht: „Man muss halt gut argumentieren, dann könnte negative Kritik sogar dem in seinen Text verliebten Autor einleuchten", erläutert sie dem Börsenblatt im Interview. Auch dem Leser, der sich orientieren will, helfen gute Argumente viel eher weiter als apodiktische Weisungen der Großkritik.

Solche Umsichtigkeit, wie Daniela Strigl sie in einer Meisterschaft beherrscht, die ich Ihnen zu Beginn unserer schnellen, schlanken Zeremonie bloß andeuten kann – solche Umsichtigkeit entwickelt sich idealerweise in Rückzugsräumen, bei Vertiefung in die einzelne Lektüre, ohne Handy. Das sind günstigste Bedingungen für die Literatur und für ihre Kritik.

Von Herzen gratuliere ich einer manchmal Unerreichbaren zum Alfred-Kerr-Preis 2013.