Bibliotheken im digitalen Zeitalter

"Unverändert starke Anziehungskraft"

16. Juli 2015
von Börsenblatt
Die Nutzerzahl der Nationalbibliothek steigt und steigt. Elisabeth Niggemann weiß, warum das immer noch so ist: Die Generaldirektorin, die am heutigen 2. April 60 Jahre alt wird, erklärt den Lesesaal zum idealen Raum für den geistig tätigen Menschen. – Ein Geburtstagsinterview.

1997 wurde der Neubau der damals noch Deutschen Bibliothek in Frankfurt eröffnet, 2011 der Erweiterungsbau in Leipzig. Haben sich die Investitionen gelohnt?
Ja, aber nicht nur das. Sie waren auch absolut notwendig. Wir hatten in Frankfurt vor dem Neubau eine komplizierte logistische Situation mit vielen Ausweichmagazinen. Der Lesesaal war nicht groß genug. Nutzerinnen und Nutzer mussten oft lange warten, bis ihre bestellten Veröffentlichungen vorlagen. Es gab keinen Platz mehr für Neuzugänge. In Leipzig war die Lage ähnlich: Auch dort waren die Magazine voll und wir hatten Ausweichflächen angemietet.

Für wie lange reicht nun die neue Kapazität an beiden Standorten?
Auf jeden Fall bis 2025. Wenn aber eintritt, wovon viele seit langem sprechen, dass nämlich die Menge der gedruckten Zeitschriften, Zeitungen und Bücher zurückgeht, dann reicht die Kapazität natürlich noch länger. Aber von einem Rückgang merken wir nichts. Wir haben weiterhin gleichbleibend viele Neuzugänge.

Wie haben sich die neuen Raumverhältnisse auf die Nutzerzahlen ausgewirkt?
Die Benutzung hat stark zugenommen – entgegen der Skepsis, die mitunter geäußert wurde, weil unsere beiden Standorte ja nicht unmittelbar bei den Universitäten oder im Stadtzentrum liegen. Vor allem unsere modernen, neuen Lesesäle in Frankfurt am Main sind so gut angenommen worden, dass es heute schon manchmal wieder schwierig ist, einen Platz zu finden. Wir machen damit eine Erfahrung, die auch in anderen Ländern gemacht wird: Überall, wo ein attraktives Gebäude neu angeboten wird, steigen die Nutzerzahlen stark an. Nicht von ungefähr sind auch in jüngster Zeit weitere architektonisch spektakuläre Bibliotheksgebäude eröffnet worden, in Birmingham, in Riga.

Die damalige Skepsis bezog sich auch grundsätzlich auf die Frage, wie sich das Verhalten der Nutzer in Zeiten digitalen Zugangs entwickeln würde. Man ist ja nicht mehr angewiesen auf schöne Lesesäle.
Das gilt sicherlich für die Naturwissenschaften, Technik und Medizin. Aber für alle, die auf Quellen angewiesen sind, die nicht digital vorliegen – das ist immer noch der bei weitem größte Teil unserer Bestände – gilt das nicht. Wir dürfen nicht vergessen, dass Veröffentlichungen des 20. Jahrhunderts nur selten digital vorliegen und damit auch viele geisteswissenschaftliche Zeitschriften, Konferenzberichte usw.

Was motiviert Bibliotheksnutzer heute noch dazu, in einen Lesesaal zu gehen?
Die besondere Atmosphäre von Lesesälen übt eine unverändert starke Anziehungskraft auf viele geistig arbeitende Menschen aus. Wer dort ist, begibt sich in einen „Arbeitsmodus“. Auch soziale Aspekte spielen eine Rolle. Man trifft sich hier mit Kommilitonen, trinkt einen Kaffee zusammen in der Pause, verabredet sich zum Mittagessen.  

Ist Ruhe immer noch oberstes Gebot in der Nationalbibliothek?
Ja. Ich wünsche mir allerdings einen Raum, in dem geredet wird und die Menschen untereinander regeln, wie laut es werden darf. Ich weiß, dass es immer mehr junge Leute gibt, die gerne arbeiten, wenn sie von einem gewissen Geräuschpegel umgeben sind. Auch Gruppenarbeitsräume  würden sicher intensiv genutzt.

Welche Rolle spielt die digitale Literatur in der DNB?
Mittlerweile haben wir eine signifikante Menge an digitaler Literatur, so dass auch hier die Nutzungsquote ansteigt. Aber auch diese Nutzung ist aufgrund urheberrechtlicher Bestimmungen an Präsenz gebunden. Wir können die digitale Literatur an ausgewiesenen Leseplätzen bereitstellen. Das heißt, auch unsere registrierten Nutzerinnen und Nutzer können nicht das tun, was universitäre Bibliotheksnutzer gewohnt sind: von außerhalb zugreifen. Wir schließen ja keine Lizenzen ab wie Universitätsbibliotheken, sondern sammeln Veröffentlichungen, die als Pflichtablieferungen bei uns eingehen.

Träumen Sie von einer  Nationallizenz?
Das wäre angesichts unseres Auftrages wenig realistisch.

Träume dürfen ja unrealistisch sein.
Aber berufliche Träume sollten sich von reinen Phantasien unterscheiden. Ich träume eher davon, dass für bestimmte Nutzungsarten und -gruppen und unter ganz konkreten technischen Voraussetzungen tatsächlich von überall zugegriffen werden kann. Und warum nur national? Ich hoffe, dass über die Rahmenbedingungen für eine solche Öffnung diskutiert werden kann, wenn das Gesetz über die vergriffenen Werke in die Umsetzung gegangen und erprobt worden ist: Alles, was vor 1966 gedruckt in Deutschland erschienen und heute vergriffen ist, kann bald über die VG Wort lizenziert werden. Wir arbeiten mit an den technischen Schnittstellen, zusammen mit der VG Wort und dem Patent- und Markenamt, das das Register pflegen wird. Warum sollten ähnliche Regelungen in ein paar Jahren nicht auch für andere Gruppen von Medienwerken gelten?

Haben Sie im Laufe der Jahre gelernt, mit eher kleinen Fortschritten in sehr langen Zeiträumen auszukommen?
Dauerhafte, tragfähige Entwicklungen brauchen Zeit. Beim Blick zurück frage ich mich allerdings schon manchmal: Warum ging es nicht schneller voran? Aber ich sehe keine Alternative. Letztlich geht es um partnerschaftliche Vereinbarungen, die Win-Win-Situationen herstellen. So etwas lässt sich nur schrittweise realisieren, nicht in großen Sprüngen. Überhaupt ist Partnerschaft – mit unseren Gremien, den Verbänden, der Politik – der wichtigste Erfolgsfaktor unserer Arbeit.

Eine einschneidende Erweiterung Ihres Sammelauftrags kam mit dem Internet. Wissen Sie heute präzise genug, was in den Weiten des weltweiten Netzes sammelpflichtig ist und was nicht?
Nein, noch nicht. Ein Gesetz kann einen Sammelauftrag nicht en Detail regeln und wir haben deshalb drei Ebenen der Auftragsbeschreibung: Da gibt es zunächst das auf einem hohen Abstraktionsniveau formulierte Gesetz. Darunter kommt eine Pflichtablieferungsverordnung, die schon etwas konkreter wird. Und auf der dritten Stufe folgen unsere Sammelrichtlinien, die aus den gesetzlichen Vorgaben abgeleitet sind. Diese Sammelrichtlinien sind über die Jahrzehnte gewachsen – für gedruckte Werke, Tonträger, Mikrofilmträger usw. Immer wieder wurden sie neuen Entwicklungen angepasst und sind auf diese Weise sehr konkret geworden.

Sind diese Regeln auch für digitale Medien schon brauchbar?
Für die digitalen Medien sind sie derzeit noch wesentlich weniger detailliert als für die gedruckten Medien. Aber die Differenziertheit, die wir benötigen, beginnt gerade zu entstehen. Ende vergangenen Jahres haben wir zum Beispiel einen Experten-Workshop gemacht zu dynamischen Publikationen wie etwa aktuellen Nachrichtenseiten, Blogs, Tageszeitungen im Internet bis hin zu Websites von Unternehmen und Institutionen: Ein Snapshot von heute hat gegenüber dem Bild von morgen viele Unterschiede.

Welche Fragen sind da zu klären?
Zum Beispiel, in welchen Abständen wir Snapshots machen sollten. Wir hatten neben Medienschaffenden auch Wissenschaftler und Blogger eingeladen, um sie nach ihren Anforderungen zu fragen. Wir wollten wissen, ob sie das Sammeln und Archivieren ihrer Veröffentlichungen begrüßen oder es Ihnen wichtig ist.

Gibt es Blogger, die es schlecht fänden, wenn ihre Veröffentlichungen langfristig haltbar gemacht würden?
Da kommt man schnell zu Fragen der Privatsphäre und der Öffentlichkeit im Netz. Wie ist mit einer aktiven Depublikation durch Blogger, etwa weil sie nach einiger Zeit ihre Auffassungen weiterentwickelt haben, umzugehen?

Aber das hängt doch nicht von Ihren Sammelrichtlinien ab …
Es gibt sicherlich verschiedene Kanäle, auf denen mehr oder weniger systematisch etwas gesammelt wird. Aber ich weiß nicht, ob wir heute davon ausgehen können, dass Blogs nach zehn oder 15 Jahren noch da sind; ich halte das eher für unwahrscheinlich. Jedenfalls ist die Frage nach einem Recht auf Löschen eine Diskussion, die in Europa unter dem Stichwort „Privacy“ läuft. Die Hürde, sich in einer Publikation öffentlich mitzuteilen, war in der gedruckten Welt eine viel höhere als in der digitalen. Deshalb haben wir zu überprüfen, ob das Kriterium „Was einmal veröffentlicht wurde, ist und bleibt in unserer Sammlung“ in dieser sehr klaren Form auch für digitale Veröffentlichungen bedingungslos gelten kann. Das ist eine gesellschaftliche Debatte, die sich dann natürlich auf unsere Sammeltätigkeit und Archivierungsrichtlinien auswirkt.

Werden Sie bei der Frage, wie mit dem Internet umzugehen ist, nicht von der schieren Menge und der Vielfalt da draußen überfordert?
Spätestens seitdem die Library of Congress das Twitter-Archiv bekommen hat stellte sich auch für andere Bibliotheken die Frage, ob Tweets gesammelt werden sollten. Mein Ansatz ist, weiterhin zu unterscheiden zwischen einer prinzipiell geschützten Privatkommunikation – vergleichbar etwa dem Telefonieren – und einer für eine breitere Öffentlichkeit gedachten Kommunikation.

Und in welche Kategorie fallen dann Tweets?
Das lässt sich so ohne weiteres nicht beantworten. Abgesehen von geschützten Twitterkanälen, die lediglich den eigenen Followern zugänglich sind, lassen sich Tweets sowohl nach dem Inhalt, also eher privat oder eher von öffentlichem Interesse, und Zahl der Follower unterscheiden.

Bei Leuten wie Sascha Lobo kommen da schon ein paar Empfänger zusammen …
Ja, die Abgrenzungen sind ein Problem. Deshalb müssen wir in den nächsten Jahren mit verschiedenen Gruppen, die jeweils verschiedene Positionen repräsentieren, ausloten, welcher Umgang der gewünschte und der plausibelste sein könnte. Mit dem Thema des dynamischen Publizierens haben wir, wie gesagt, bereits begonnen. Noch in diesem Jahr folgt eine weitere Veranstaltung zum Thema Musik: Was passiert heute auf dem Markt? Und was heißt das für uns? Außerdem ist eine Veranstaltung zu den Sammelrichtlinien für digitale Publikationen geplant.

Wie wird die Deutsche Nationalbibliothek in 20 Jahren aussehen?
Die Deutsche Nationalbibliothek wird stärker noch als bisher Teil eines nationalen und internationalen Netzwerks von Partnereinrichtungen sein. Seine Metadaten, Dienstleistungen und nicht zuletzt seine großen Bestände werden jedermann überall und jederzeit zur Verfügung stehen. Diese Bestände sind leicht zu finden, zu klar definierten Konditionen zu nutzen, die Suche erfolgt vielsprachig. Die Dienste sind verlässlich und am Bedarf der Nutzer orientiert.

Wie groß ist heute die Zahl anklickbarer digitaler Werke bei Ihnen?
Was wir aus dem Katalog heraus als eine Einheit erkennbar zur Verfügung stellen und archivieren, hat jetzt die Zahl von einer Million erreicht. Dahinter verbergen sich ganz unterschiedliche Werktypen – vom E-Book bis zur PDF-Version einer Tageszeitung.

Welche Projekte für die DNB stehen bei Ihnen für die nächsten Jahre auf dem Plan?
In naher Zukunft gilt es, das Gesetz über verwaiste und vergriffene Werke umzusetzen. Dazu entwickeln wir ein Konzept, eine klare Digitalisierungsstrategie für die Erscheinungsjahre bis 1966, ausgerichtet an dem, was von Nutzern nachgefragt wird. Wir werden Anträge für Projektmittel an Drittmittelgeber stellen. Das Ziel ist, einen Großteil aus diesem „Schwarzen Loch“ des 20. Jahrhunderts ans Licht zu bringen.

Und mittelfristig?
Es gibt nach wie vor Unsicherheiten in der Urheberrechtsgesetzgebung. Was uns bedrückt, das formulieren wir immer wieder, sei es auf EU-Ebene, sei es in unseren Gremien, gegenüber der Kulturstaatsministerin oder dem Justizministerium. Überall stoßen wir auf großes Verständnis für unser Anliegen, Klarheit für diese Bereiche zu erhalten.

Welche Unsicherheiten bedrücken Sie besonders?
Zum einen das Text- und Data-Mining zu wissenschaftlichen Zwecken. Es fehlt eine Definition, was erlaubt ist und was nicht. Wie klein müssen z. B. die Snippets sein, die gezeigt werden dürfen? Was gilt für uns als DNB? Wir haben ja keine Lizenzen, die wir abschließen, sondern wir haben Pflichtexemplare.

Wie steht es mit der Langzeitarchivierung?
Auch da gibt es immer noch Meinungsunterschiede unter den Experten. Wir bekommen Werke ins Haus, die nur unter ganz bestimmten Rahmenbedingungen technischer Art vorgehalten und genutzt werden können, sagen wir, ein PDF in einer bestimmten Version. Dazu brauchen wir die Soft- und Hardware, die dazu passt. Nun ändern sich aber diese technischen Umgebungen permanent. Deshalb müssen wir diese Dokumente in die jeweils nächste Umgebung migrieren. Dabei geschieht auch etwas mit dem Dokument. Wir tun unser Bestes, um das Dokument im urheberrechtlichen Sinne nicht zu verändern. Aber es wird auch immer wieder einmal unvermeidbar sein, etwas zu ändern.

Wenn Sie auf Ihre bisherige Zeit bei der DNB schauen – was verbuchen Sie auf der Habenseite?
Vor allem das großartige Team, die Kolleginnen und Kollegen in der Deutschen Nationalbibliothek. Ohne sie – aber auch ohne unsere Partner in anderen Organisationen – wäre nichts auf der Habenseite. Ganz konkret gesagt brachte 2006 das „Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek“ eine bedeutsame Veränderung. Das hat unsere Handlungsmöglichkeiten wirklich erweitert. Wichtig finde ich auch, dass es gelungen ist, einen so schönen und funktionalen Erweiterungsbau in Leipzig zu planen und zu realisieren. Mit der Integration des großzügigen Museums hat das Deutsche Buch- und Schriftmuseum eine prominente Rolle am Deutschen Platz übernommen und seine Sichtbarkeit strahlt mit der ebenfalls neuen Ausstellung Zeichen – Bücher – Netze weit über Leipzig hinaus. Dass wir zugleich das in Berlin unter Platznot leidende Deutsche Musikarchiv mit herausragenden Arbeitsmöglichkeiten ausstatten und in unser Leipziger Haus integrieren konnten, war ein besonderer Glücksfall.
Wir bekommen auch international sehr viel Anerkennung für unser Engagement bei der Entwicklung neuer Standards der bibliothekarischen Erschließung – denken Sie an die Einführung der DDC im deutschsprachigen Raum und jetzt die Berufung in das Steuerungskomitee für die RDA – und machen gute Fortschritte auf dem Gebiet der automatischen Erschließung – ein wesentliches Element bei der Sammlung großer Mengen von Netzpublikationen. All das wäre ohne eine hochmotivierte und hochqualifizierte Belegschaft, wie wir sie in der Deutschen Nationalbibliothek haben, nicht möglich.

Wie fällt Ihre Bilanz zu den internationalen Projekten aus, an denen Sie maßgeblich mitgewirkt haben?
Das Wichtigste war die Aufbauphase der Europeana. Als Vorsitzende der Europeana bin ich in das Commité des Sages berufen worden. In diesem „Ausschuss der Weisen“ habe ich gemeinsam mit dem Publicis-Chef Maurice Lévy und dem belgischen Philosophen Jacques De Decker die Europa-Kommissarinnen Neelie Kroes und Androulla Vassiliou in Fragen der Digitalisierung des kulturellen Erbes Europas beraten. Das war eine intensive und spannende Zeit der europäischen zukunftsorientierten Zusammenarbeit. Auf unseren Bericht, der bis heute zitiert wird und auf den sich viele beziehen, bin ich immer noch ein bisschen stolz.

Interview: Torsten Casimir

Ansichten der Nationalbibliothek in unserer Bildergalerie.