Buchhandelsstandort Halle

Potenzial vorhanden

21. Mai 2015
von Nils Kahlefendt
Nach der Wende verlor Halle fast ein Drittel seiner Bevölkerung. Der Buchhandel in der Kulturstadt hat mit geringer Kaufkraft und Schnäppchen-Mentalität zu kämpfen. Da ist Erfindungsreichtum gefragt. 

Für Manja Büchner und ihre Kolleginnen waren die letzten Monate kein Zuckerschlecken, die härteste Wegstrecke steht ihnen womöglich noch bevor: Umbau bei laufendem Betrieb. Seit Tagen rumoren in den Eingeweiden des Kaufhauses am Marktplatz von Halle / Saale die Presslufthämmer, in der Thalia-Buchhandlung im Erdgeschoss geht der Verkauf weiter. Während die Restrukturierungsphase der großen Buchfilialisten in weiten Landesteilen einen vorläufigen Endpunkt erreicht hat, ist sie in der mit 231 000 Einwohnern größten Stadt Sachsen-Anhalts noch in vollem Gang. Büchner, ausgebildet an der Leipziger HTWK und seit 2003 ­Filialleiterin, kam mit der Eröffnung der damals noch als Buch + Kunst firmierenden Großfläche 1998 nach Halle und hat den Veränderungsprozess hautnah miterlebt. Nun freut sie sich auf Licht am Ende des Tunnels: Thalia investiert kräftig in den Standort und wird Mitte Oktober auf 1 500 Quadratmetern eine komplett neu gestaltete Buchhandlung eröffnen.

Bis hierhin war es ein langer Weg: Im Januar 2011 machte Thalia in der Leipziger Straße 95 dicht; zwei Großflächen in unmittelbarer Nähe wollte sich der Filialist, der zudem in Halle-Neustadt (620 Quadratmeter) und im Einkaufspark Nova Eventis vertreten ist, nicht länger leisten. Im September 2013 zog das Modehaus Wöhrl, mit dem sich Thalia am Markt die Kaufhausfläche auf mehreren Etagen geteilt hatte, aus. Die Buchhändler widmeten den verwaisten Eingangsbereich an der  Marktseite zur Aktionsfläche um, auf der auch Saisonthemen, etwa das Kalendergeschäft, gespielt wurden. Bis auf einen Teil des Eingangsbereichs wird Thalia ab Oktober sein gesamtes Sortiment im ersten Obergeschoss konzentrieren. Kompakter, übersichtlicher soll es werden – die frei geräumte Fläche im Untergeschoss übernimmt dann die amerikanische Modekette TK Maxx. Auffälligste Neuerung bei Thalia wird – neben einem großzügigen Tolino-Shop – die deutlich ausgeweitete Kinder- und Jugendbuch-Abteilung sein. Ein Segment, das sich in der bis weit in die Nullerjahre schrumpfenden Saale-Metropole bereits seit Längerem positiv entwickelt. Geht da was?


Schwieriges Pflaster 

Zu DDR-Zeiten war Halle ein bedeutender Standort der Chemieindustrie, für deren Arbeiter in den 60er Jahren eigens eine neue sozialistische Modellstadt aus dem Boden gestampft wurde: Halle-Neustadt. Die Einwohnerzahlen Halles und der Neustadt stiegen rasant – und fielen dann, nach der Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch der verarbeitenden Industrie im Osten, besonders tief. Von 1990 bis 2005 hat Halle durch Abwanderung, Suburbanisa­tion und Geburtenrückgang rund 80 000 Einwohner verloren – eine veritable Mittelstadt. Noch Ende der Nullerjahre war Halle die ostdeutsche Großstadt mit der höchsten Leerstandsquote. Auch wenn sich der demografische Trend seit 2010 / 11 vorsichtig gedreht hat – für den Einzelhandel gilt Halle als schwieriges Pflaster. Nicht nur die Fußgängerzone in der Leipziger Straße, Halles Boulevard, hat in den zurückliegenden Jahren namhafte Geschäfte verloren. Neben Wöhrl verabschiedeten sich die Schuhkette Görtz, Pizza-Hut oder das Mischwaren-Kaufhaus Woolworth. Leerstand und nachgerückte Billiganbieter tun dem Image der City nicht gut, besonders der obere Teil des Boulevards gilt als Sorgenkind.

Auf der anderen Seite sind viele Ketten nicht in Halle vertreten, weil es an großen Ladenflächen in marktnaher 1-a-Lage fehlt. Die Konkurrenz zu Leipzig, das mit der Ende 2013 eröffneten neuen S-Bahn Mitteldeutschland als Shopping-Alterna­tive noch attraktiver geworden ist, sowie leicht erreichbare Einkaufszentren auf der Grünen Wiese (Nova Eventis, HEP) tragen zur unbefriedigenden Situation bei. Zu allem Überfluss fehlt es an Kaufkraft – zumindest wenn man den Statistiken folgt. Laut aktueller GfK-Studie rangiert Sachsen-Anhalt im laufenden Jahr mit einem Kaufkraftindex von 83,2 Prozent deutlich unter dem gesamtdeutschen Durchschnitt – im Bundesland­ranking ist das der vorletzte Platz. Im Zuge dieser Entwicklungen haben viele Einzelhändler ihr Angebot in Richtung Niedrigpreis-Segment heruntergefahren – eine fatale Self-fulfilling Prophecy, von der nicht nur Thalia-Frau Büchner wenig hält: »Es ist wichtig, für jeden Geldbeutel etwas anzubieten. Das honoriert der Kunde, gerade im Buchhandel.« Zur Belebung der Innenstadt haben Kommune und Stadtmarketing GmbH in Kooperation mit der Citygemeinschaft im letzten September die Initiative SchöneLäden.de gestartet: Eine App, mit deren Hilfe man durch die teilnehmenden Läden navigieren kann, begleitet von Shopping-Guides, Einkaufstüten und Fußmatten im Einheits-Look, soll dem inhabergeführten Einzelhandel aufhelfen. Der Buchhandel steht der kommunalen Buy-local-Kampagne eher skeptisch gegenüber: Uneffektiv, intransparent in der Finanzierung, so lauten die Bedenken. Ein Marketingcoup, nicht geeignet, früher begangene stadtplanerische Unterlassungssünden zu kompensieren.


Bei der Privatisierung des DDR-Volksbuchhandels wollte man im Bezirk Halle Entwicklungen wie im Bezirk Dresden vermeiden – dort war es durch die großflächige Übernahme durch die Thurn & Taxis Beteiligungsgesellschaft (TTBB) zu neuen Monopol-Strukturen gekommen. Dass die nicht eben zahlreichen ortsansässigen Neugründer, die nach 1990 zum Zuge kamen, heute einen Windmühlenkampf gegen weit mächtigere Monopole ausfechten, steht auf einem anderen Blatt. Die meisten kennen und respektieren sich noch aus Volksbuchhandelszeiten – heute versuchen sie, auf schwierigem Terrain ihre Claims abzustecken. Edmund Baron, letzter Chef des »Guten Buchs«, der größten Volksbuchhandelsfiliale im Bezirk, hatte die kleine Waisenhaus-Buchhandlung am Franckeplatz zunächst als Filiale der Lippertschen Buchhandlung übernommen.

Nach deren Rückzug 2010 aus der Großen Steinstraße wurde die Waisenhaus-Buchhandlung, mit über 300 Jahren eine der ältesten in Deutschland, zum Hauptgeschäft. Treue Stammkunden brachten den Laden über schwierige Jahre der Gebäudesanierung, heute ist er ein Schmuckstück. Die Erziehungswissenschaften der Universität und die Franckeschen Stiftungen sind Rechnungskunden. Die antiquarischen Schätze der Lippertschen, die ehedem in den endlosen Gewölben des Max Niemeyer Verlags schlummerten, werden in einem Lagerraum des alten Centrum-Warenhauses aufbereitet und fließen stetig übers Netz ab – »zwischen 50 und 100 Sendungen pro Woche«.

Wenige Meter südlich, im Steinweg, haben Katharina Niesmann und Susann Krahl 2003 die Buchhandlung Molsberger übernommen; eines der wenigen christlich orientierten Sortimente, das die DDR-Zeiten überlebte. In den letzten Jahren mussten Niesmann und Krahl eine sukzessive Abwertung des nicht mehr zum Citybereich rechnenden Standorts hinnehmen; mit der derzeit laufenden Komplettsanierung des Rannischen Platzes verstärkt sich der Trend. »Wir liebäugeln öfter mit einem Umzug Richtung Zentrum«, verrät Krahl, »meist sind jedoch zu kleine Flächen im Angebot.« Hoffnung macht das angrenzende Stadtviertel Glaucha, das im Zuge der Sanierung für junge Familien attraktiv geworden ist – hier kann Molsberger als Kiezbuchhandlung punkten.

Antje Jacobi und Raimund Müller, die nördlich des Stadtrings seit 1997 das gleichnamige Vollsortiment betreiben, setzen auf das unweit ihrer Ladentür neu entstehende Geistes- und Sozialwissenschaftliche Zentrum der Universität: 3 000 Studenten sollen den Steintor Campus einmal bevölkern; dazu wird auf dem Areal eine 4 600 Quadratmeter große Zweigstelle der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) errichtet.

Konsequente Spezialisierung 

Seit mehr als 18 Jahren hält Steffen Körner mit seiner Reisebuchhandlung Auf und Davon in der Großen Ulrichstraße die Stellung. Offiziell eine 1-b-Lage, doch, so Körner, »die einzige Straße in Halle, der heute Zuwachsraten zugetraut werden«. Auch Körner musste Durststrecken überstehen, die über anderthalb Jahre bis Mai 2014 andauernde »Tiefensanierung« der Ulrichstraße war eine davon. Sein Überlebensrezept: die konsequente Spezialisierung. Schaut man in Körners proppenvolle Regale und hört, in welch exotische Weltgegenden seine Klientel, zumeist Individualtouristen, aufbricht – dann liest sich die Kaufkraft-Statis­tik der Saalestadt in anderem Licht.

Dass Neugründungen mit pfiffigem Konzept in der passenden Nische durchaus eine Chance haben, zeigt das 2011 im Paulus-Viertel gestartete Kinderbuchantiquariat Gulliver Books, was auch Neubücher im Sortiment hat – oder das Dreierlei in der Geiststraße – ein quirliger Mix aus Kinderbuch­laden, Boutique und Café, Magnet für junge Mütter und ihren Nachwuchs. Ehrgeizig gestartet war im Frühjahr 2012 das Buch- und Kunsthaus Cornelius (BKC). Rund 500 Quadratmeter im ehemaligen Domizil der Lippertschen, Vollsortiment, MA, Galerie, kuratiertes Kultur-Café – Standortkenner hielten das Engagement von Reinhardt O. Cornelius-Hahn, höflich gesprochen, für »mutig«. Ein Jahr später zog der Geschäftsführer des Halleschen Projekte-Verlags die Reißleine, um wenige Häuser weiter auf drastisch reduzierter Fläche weiterzumachen. Inzwischen bietet dort ein Friseur Trockenhaarschnitte für zehn Euro an.

Während die Fachbuchhandelskette Lehmanns Media am neuen Standort in Leipzig seit Längerem höchst erfolgreich auch als Vollsortimenter agiert, blieb man in Halle der eigenen DNA treu. Hier übernahm man nach der Wende den medizinisch-­naturwissenschaftlichen Teil der Robert-Koch-Buchhandlung, der später um den lukrativen Bereich Jura erweitert wurde. Mit dem 2010 erfolgten Kauf der Buchhandlung Sack durch Schweitzer Fachinformationen und dem Umzug auf eine attraktive Fläche in unmittelbarer Nähe des Juridicums der Martin-Luther-Universität (Schweitzer am Campus) erwuchs Lehmanns hier echte Konkurrenz. In den Bereichen Medizin und Naturwissenschaften fühlt man sich (trotz einer starken ­Thalia-Fachbuchabteilung) als Platzhirsch – obwohl der Standort am Universitätsring an Zugkraft eingebüßt hat.

Die räumliche Neuordnung der Universitätslandschaft – Hörsaal-Neubau im Klinikum Kröllwitz, Weinberg-Campus, Campus Heide-Süd – zieht Medizin-, Physik- oder Landwirtschafts­studenten ab. Mit konsequenter Service-Orientierung versucht Lehmanns, seine Zielgruppe bei Laune zu halten und der Konkurrenz aus dem Netz zu begegnen – das reicht von der Ansichtsbestellung bis zum kostenlosen Cappuccino. Rechnungskunden im Stadtgebiet werden gratis beliefert – wer bis 18 Uhr bestellt, erhält seine Bücher anderntags frei Haus. »Wir sind schneller als Amazon«, freut sich Martin Haltrich, zu DDR-Zeiten Buchhändler bei Robert Koch, heute Lehmanns-Regionalleiter für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Als Damoklesschwert schwebt die Forderung der Magdeburger Landes­regierung nach Einsparungen bei der Universität Halle-Wittenberg auch über Lehmanns Haupt. »Zeitweise drohte die Schließung der vor­klinischen Ausbildung in Halle«, weiß Haltrich. »Das wäre für uns ein schwerer Schlag gewesen.« Nun ist diese Kuh wohl vom Eis, das Wort »Strukturanpassungen« klingt zumindest weniger dramatisch.

Das Schönste an Halle sei der Hauptbahnhof, meinte einst Curt Goetz, weil er Gelegenheit biete, »diese Stadt nach allen Himmelsrichtungen hin zu verlassen«. Inzwischen ist selbst der saniert (und mit einer ansehnlichen PSG-Filiale bestückt). Doch immer mehr wollen bleiben – wie Manja Büchner, die vor 17 Jahren nicht im Traum daran dachte, hier Wurzeln zu schlagen: »Ich halte Halle für eine unterschätzte Stadt. Und für eine mit Potenzial.«