Buchpreisträger Robert Menasse im Börsenblatt-Interview

Metaphern vom Glücksschwein bis zur Drecksau

14. Oktober 2017
von Börsenblatt
Vor begeistertem Publikum sprach heute der Gewinner des Deutschen Buchpreises 2017, Robert Menasse, über die Motivation, seinen EU-Roman zu schreiben, permanente Widersprüche und die Menschlichkeit seiner Figuren.

Das Forum Börsenverein in Halle 3.1 ist rappelvoll, die grauen und roten Hocker sind alle besetzt, auch die Gänge sind voller Menschen, die ihre Smartphones zücken, als Robert Menasse auf die Bühne kommt. Kurz sind die Fotografierenden irritiert, als er seinerseits mit seinem Smartphone die Zuschauer ablichtet - Menasse schmunzelt, es folgt befreiendes Lachen im Publikum.

Menasse, der selbst einige Jahre in Brüssel gelebt hat, hat versucht, möglichst viele Beamte kennenzulernen, die in der EU-Kommission arbeiten, "Ich war neugierig: Welche Menschen sind das, die die Rahmenbedingeungen für die EU ausarbeiten? Entsprechen sie den Klischees von weltfremden Bürokraten hinter verspiegelten Glasfassaden?", antwortete der Autor auf die Frage von Börsenblatt-Redaktuer Michael Roesler-Graichen nach seiner Motivation zu diesem Roman. "Ich wollte wissen, wie sie ticken - aber es sind immer Menschen, mit Eigenarten, Vorgeschichten, Sehnsüchten, sie können hoch fliegen, tief sinken, kurz: Sie sind alle so wie ich, nur höher qualifiziert." Warum gerade er sich dieses Thema gesucht hat? "Wenn ich es nicht mach' - wer soll's denn machen? Wer mietet ein Zimmer in Brüssel, taucht in das EU-Leben ein? Ich bin in der glücklichen Lage, das einfach machen zu können, ich muss niemand um Forschungsbeitragszuschüsse bitten oder mich fragen lassen 'Warum wollen Sie von einem anderen Arbeoitsplatz aus arbeiten? usw."

Roesler-Graichen wies auf die permanenten Widersprüche in der EU hin: "Ist Europa vielleicht gerade deshalb so stabil, weil es von sovielen Widersprüchen zusammengehalten wird?" "Wenn ich in Widerspruch stehe zu meiner heftig pubertierenden Tochter, werde ich nicht die Liebe zu ihr in Frage stellen", zog Menasse eine Parallele: "Ähnlich ist es mit der EU: Man muss sie nicht völlig in Frage stellen, auch wenn man nicht mit allen Entscheidungen der Handelnden einverstanden ist."

Vielleicht sei es wirklich so, "dass das habsburgische Österreich, das wir im Hinterkopf haben, es uns ermöglicht, die europäische Idee zu verstehen - der Staat hat eine Vielfalt von Ethnien, Sprachen und Kulturen beinhaltet auf der Basis eines gemeinsamen Marktes und einer gemeinsamen Währung", hielt der in Wien lebende Schriftsteller fest. "Dieses Zusammenleben wurde durch die vielen Nationalismen zerstört. Nur ist in der Öffentlichkeit nie eine Lehre daraus gezogen worden", bedauerte Menasse. "Aber die Leute haben nie in einer größeren Freiheit gelebt, in einer wirtschaftlichen Prosperität, einem sicheren Rechtssystem, das alles kam erst dann wieder, als sie EU-Mitglieder wurden." Schwer zu fassen für den Autor, wie viele Erfahrungen ausgeblendet wurden und in der aktuellen Debatte um die EU auch werden.

Scharf ging es mit den Befürwortern nationalistischer Betsrebungen in einzelnen EU-Ländern, wie Polen, Frankreich oder Ungarn ins Gericht: "Liebe Nationalisten, wir haben unsere Erfahrungen mit euch gemacht, die wollen wir nie wieder machen! Deshalb müssen wir gefährliche Entwicklungen kritisieren." Bei aller Kritik dürfe man aber nicht aus den Augen verlieren, dass es menschen mit all ihren Stärken und Schwächen seien, die in und an der EU arbeiteten, das sei wichtig.

Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe machte klar, dass Menasses Roman sehr besonders sei. "Wir verlegen ja keine Bücher, sondern das Werk eines Autors, wir sind ein Autorenverlag, weshalb von Anfang an klar war, dass das Buch bei uns verlegt wird", sagte Landgrebe. "Als wir die ersten Seiten gelesen haben, war im Verlag eine große Freude - wir wissen ja, was er kann!"

Hat Menasse vorher geschaut, ob es schon andere Romane zur EU gibt? "Ich habe gegoogelt, was es bereits an Romanen über die EU und mein Thema gibt, aber außer einem schlechten Krimi hab ich nichts gefunden. Was verwundert. dass es zu diesem komplizierten europäischen Projekt, das uns alle berührt, nichts gibt. Dann hab ich gedacht: Ich bin eh der Erste..."

Menasse sieht seinen Roman auch als eine Art Hintertürchen, um mit den Mitteln eines Schriftstellern eine politische Botschaft nach Großbritannien, aber auch in andere Länder zu senden. "Mein früher Verleger in Großbritannien schrieb mir: 'Lieber Robert, ich habe lieber Cholera als ein Pro-EU-Buch in meinem Programm.' Da hab ich meinen Verlag dort verlassen. Aber ich bin eh sicher, dass die Briten in 15 Jahren wieder in die EU eintreten werden, und dann ohne Vorbedingungen", so die Einschätzung des Österreichers.

Auf die Ankündigung, dass Menasse nun aus dem preisgekrönten Roman lesen werde, unterbrach der Schriftsteller: "Wollen Sie das wirklich? Vielleicht haben ja einige von Ihnen schon das Buch gelesen ..." Das von Applaus begleitete entschiedene "Doch!" des Publikums ließ die Zurückhaltung schmelzen, und Robert Menasse las mit sich steigerndem Tempo den Prolog über das Schwein, das durch Brüssel jagte. Umgehend entstanden Bilder im Kopf, die die Zuschauer ebenso zu leisem Schmunzeln brachten wie in Bann hielten.

Warum hat er sich gerade für ein Schwein in dem Roman entschieden?, wollte Michael Roesler-Graichen wissen. "Das Schwein ist ein interessantes Tier für einen Autor, weil es eine universelle Metapher darstellt, vom Glücksschwein bis zur Drecksau. Kulturell kann es für den einen ein Festmahl und für den anderen einen Verstoß gegen die Reinheit bedeuten. Es ist keine schlechte Figur, wenn man zeigen will, wie schwierig Interessenvermittlung zwischen zwei Positionen ist. Immer wieder gibt es Szenen in "Die Hauptstadt" mit starkem satirischen Einschlag: "Es ist so vieles tragisch, auch unfreiwillig komisch, manches lustig. Manchmal ist es schwer, keine Satire zu schreiben. Nur wenn man keuchend unter Kunstzwang schreibt, muss man manchmal vielleicht anders an das Schreiben herangehen. Aber ich bin eh depressiv, insofern war das Schreiben mancher Szenen wunderbar ... " Mehr als 120.000 Exemplare des Romans sind bereist verkauft, verriet Landgrebe, "und der Buchpreis sorgt jetzt noch einmal für ein besonderes Interesse bei ausländischen Verlagen."

Bei seinem Einsatz für die EU trotz aller Kritik hat er bereits Erfahrungen gesammelt im Umgang mit nationalistischen Befürwortern. Als er in Brüssel zum 60. Jahrestag der römischen Verträge eingeladen war, im EU-Parlament zu sprechen, standen genau in dem Moment, als anfing zu sprechen, die ungarischen Abgeordneten auf: "Die haben exakt diesen Moment abgewartet." Es sei doch absurd: "Das EU-Parlament ist ein Parlament, in das sich Menschen wählen lassen, um es zu zerstören."

"a suivre" steht am Ende des Romans: Warum auf Französisch? "Ich liebe Doppeldeutigkeiten". bekannte Menasse, "a suivre bedeutet zum einen "Es wird weitergehen", zum anderen "Ich werde Fortsetzungen schreiben" ... Das Publikum, so viel wurde  spätestens beim lauten Applaus deutlich, möchte mehr von diesem Autor lesen.