Buchpremiere

Kafkas Jahre der Erkenntnis

24. Juli 2015
von Börsenblatt
Korrekturen zu Kafka: Im Frankfurter Literaturhaus wurde der zweite Band der monumentalen Kafka-Biografie aus dem S. Fischer Verlag vorgestellt (»Kafka – Die Jahre der Erkenntnis«), die das landläufige Bild des Dichters vielfach zurechtrückt. Autor Reiner Stach las Passagen aus seinem Buch, die Literaturkritikerin Sigrid Löffler führte in das Thema ein und moderierte den Abend.
Franz Kafka – so lautet ein zählebiges Vorurteil – sei ein weltabgewandter, verschlossener, in Privatmythologien versunkener Mensch gewesen, der so gut wie kein öffentliches Leben führte. Ein Irrtum, wenn man Reiner Stachs Biografie liest, deren erster Band »Die Jahre der Entscheidung« 2002 erschienen war, und deren zweiter Band »Die Jahre der Erkenntnis« nun im Frankfurter Literaturhaus seine öffentliche Premiere erlebte. Vertikale Dimension der Existenz Zugegeben, räumt Stach zu Beginn des Abends ein, der geographische oder berufliche Radius Franz Kafkas sei eher bescheiden gewesen, doch dem ereignisdürren Außenleben stehe ein innerer Reichtum gegenüber, »der sich im Psychischen entfaltet und eine vertikale Dimension eröffnet«, wie Stach erzählt. Sigrid Löffler, die Literaturkritikerin und Herausgeberin von »Literaturen«, hob zunächst die Besonderheit von Stachs biografischem Konzept hervor: die gelungene Komposition von Essay, szenischem Erzählen und literarischen Passagen. Und rekapitulierte die verschiedenen Lesarten, die Kafkas Werk im Wandel der Rezeption zuteil wurden: Jede Epoche habe ihn anders interpretiert – metaphysisch, existenzialistisch oder psychoanalytisch. Die Biografie Reiner Stachs hingegen rekonstruiere Kafkas Werk – wozu auch die Briefe und Tagebücher gehören – als aufgeschlagenes Buch seines Lebens. Für das Verständnis Kafkas sei es entscheidend, das sich Leben und Werk wechselseitig spiegelten. Der Biograf las Passagen aus dem nun bei S. Fischer erschienenen zweiten Teil »Kafka – Jahre der Erkenntnis«, die das Bild des introvertierten Einzelgängers korrigieren. Zwei Aspekte sind es vor allem, die Kafkas letzten Lebensabschnitt von 1917 bis zu seinem qualvollen Ende 1924 geprägt haben: der Krieg und die Frauen. Reiner Stach geht so weit zu behaupten, »der Krieg sei geradezu das Zentrum seiner Existenz« gewesen – durchaus auch in einem destruktiven Sinne. Denn der Erste Weltkrieg zerstörte nicht nur das über die Jahre geknüpfte Netzwerk zu Freunden und literarischen Bekannten wie Robert Musil, löste nicht nur eine lange unproduktive Phase aus, – sondern vereitelte Kafkas Plan, sich endgültig von seinem Elternhaus zu lösen. 1917 war zudem das Jahr, in dem die todbringende Tuberkulose, die sich ein Jahr zuvor mit einem Blutsturz angekündigt hatte, diagnostiziert wurde. Franz Kafka und die Frauen »Blieben also noch die Frauen«, ergänzt Sigrid Löffler, und in der Tat, Kafkas Beziehungen zu Felice Bauer (mit der er sich 1916 ein zweites Mal verlobte), zu Julie Wohryzek, zu Milena Jesenská und Dora Diamant nahmen in seiner Existenz und seinem innerpsychischen Erleben einen großen Raum ein. »Vor allem die Briefe an Milena Jesenská waren von einer Intensität, die der Biograf nicht schildern kann«, bekannte Stach, der aus dem Kapitel über die erste Begegnung Kafkas mit Jesenská las. Für Kafka-Interessenten hielt der Abend noch die Nachricht bereit, dass Band 3 der Biographie über Kafkas Kindheit und Jugend in Arbeit sei. Dieses Buch, dessen Fertigstellung noch einiger Jahre bedarf, verspricht neue Einsichten: Stach durfte als erster Biograf den Nachlass Max Brods einsehen, der Notizen und Dokumente über Kafkas frühen, prägenden Lebensabschnitt enthält. Bibliographie: Reiner Stach, Kafka – Die Jahre der Erkenntnis, S. Fischer, 2008, 736 S., 29,90 Euro