Buchtipp der Woche: Peter Burke, "Die Explosion des Wissens"

Die Community als Wissensproduzent

3. März 2015
von Börsenblatt
Wie haben sich die Entstehung und die Repräsentation in den vergangenen 250 Jahren verändert? Was geschah auf dem Weg von den ersten Enzyklopädien bis zur Online-Wissensplattform Wikipedia? Peter Burke beschreibt diesen Prozess in seinem Buch "Explosion des Wissens" (Wagenbuch).

Unter dem Titel „Die Explosion des Wissens. Von der Encyclopédie bis Wikipedia“ hat der Verlag Klaus Wagenbach kürzlich den zweiten Band von Peter Burkes „Social History of Knowledge“ in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Der plakative Titel führt den Leser ein wenig auf die falsche Fährte. Denn womit wir im Zeitalter von „Big Data“ zu tun haben, ist eine Explosion der Information, und nicht unbedingt des „Wissens“. Auf Seite 316 schreibt Burke: „Die Informationsexplosion hält unvermindert an (was nicht unbedingt heißt, dass auch das Wissen explodiert).“

Es ist sicher unbestritten, dass unsere Generation heute mehr weiß als frühere. Doch der Wissenszuwachs vollzieht sich in mehreren Schritten, niemals ungefiltert und nicht in der gleichen Proportion, in der sich das Datenvolumen vergrößert. Mit neuem Wissen gerät zudem älteres Wissen in Vergessenheit, wird „überholt“ oder im schlimmsten Fall sogar vernichtet, wie Burke an anderer Stelle in seinem äußerst lesenswerten und auf extensivem Quellenstudium basierenden Buch darstellt. 

Im ersten Teil der „Explosion des Wissens“ stellt Peter Burke die Wissenspraktiken vor: Sammeln, Analysieren, Verbreiten und Anwenden. Nach einer ersten Phase der Entdeckungen, die Columbus und Vasco da Gama mit ihren Expeditionen einleiteten, kam zwischen 1750 und 1850 – dem Zeitraum, in dem Diderot und d’Alembert die „Encyclopedie“ herausgaben – das „zweite Zeitalter der Entdeckungen“, in dem die gesamte Erde (noch ohne die Pole) zum Gegenstand der Erforschung und Sammlung wurde. Nach und nach wurde alle „Weiße Flecken auf der Landkarte“ (Joseph Conrad) gefüllt. Der Bedarf nach „Lagerhäusern des Wissens“ – Museen, naturkundlichen Sammlungen, Enzyklopädien – wuchs immens.

Das Sammeln von Aufzeichnungen, Artefakten, Bildern, Gesteinsproben etc. allein genügte allerdings nicht, um zu „gesichertem“ Wissen zu gelangen. Dazu mussten verschiedene Methoden der Analyse entwickelt werden. Um aus Wissen Allgemeinwissen zu machen, waren zudem Wege der Verbreitung zu finden: Zeitschriften, Bücher, öffentliche Bibliotheken und mehr.

Mit der Spezialisierung der Wissenschaften verlor zudem der Universalgelehrte, der Polyhistor, seine Stellung in der Wissenshierachie. An seine Stelle traten Experten für einzelne Fachgebiete, die ihr Wissen wiederum in die Enzyklopädien einspeisten. Diese nicht mehr an Personen gebundenen Wissenskorpora bedeuteten aber immer auch das Weglassen oder die bewusste Unterdrückung von Inhalten. Heute, im Internetzeitalter, repräsentiert die Online-Enzyklopädie Wikipedia das kollektive Weltwissen, das „von unten“ (durchaus auch von Experten) zusammengetragen wird. Aber auch bei Wikipedia, mit mehr als dreieinhalb Millionen englischsprachigen Einträgen und über einer Milliarde Wörtern das größte Nachschlage-Instrument der Welt, ist eine zunehmende Professionalisierung zu erkennen.

Die Community aller Autoren, gesteuert von einer Administration, greift „selbstkritisch“ in die Produktion ein. Wikipedia illustriere damit auf höchst anschauliche Weise einen wichtigen Trend neuerer Zeit: die Reflexivität, so Burke. „Die Reflexivität des Lebens in der modernen Gesellschaft besteht darin, daß soziale Praktiken ständig in Hinblick auf einlaufende Informationen über ebendiese Praktiken überprüft und verbessert werden“, zitiert Burke im 9. Kapitel seines Buchs Anthony Giddens (Konsequenzen der Moderne, 1990).

Was sich gegenüber gedruckten, immer nur im Zyklus von Jahren aktualisierten Enzyklopädien entscheidend verändert hat, ist im Internet-Zeitalter der ständige Gestaltwandel, den das Wissen erfährt. Aus Wissensbeständen sind Wissensströme geworden, die permanent anschwellen und ihre Richtung ändern können.