Crowdfunding für Fotoroman

Wenn Kertész lacht

20. Juli 2015
von Börsenblatt
In den kommenden Tagen entscheidet sich das Schicksal eines Buchprojekts, das die Fotografin Janet Riedel jahrelang umgetrieben hat: „Fiasko“, ein Fotoroman nach der Vorlage des Nobelpreisträgers Imre Kertész, verbindet zwei Erzählmedien zu etwas aufregend Neuem. Mit Hilfe der Crowdfunding-Plattform startnext könnte das Buch nun endlich gedruckt werden.  

In ihrem Wohn-Atelier in Berlin-Weißensee blickt die Fotografin Janet Riedel öfter als sonst auf den Computer-Monitor. Auf dem Schirm: Die Seite der Crowdfunding-Plattform startnext. Das Projekt, für dessen Realisierung bis zum kommenden Donnerstag, schlag 23.59 Uhr, knapp 8.000 Euro zusammenkommen sollen, hat sie und viele ihrer Freunde zwischen Berlin, Frankfurt und Budapest in den letzten acht Jahren umgetrieben: „Fiasko", ein Fotoroman nach der literarischen Vorlage des Nobelpreisträgers Imre Kertész. Nun, da es ernst wird, denkt sie häufiger zurück an den Tag, als alles begann.

2005, Városmajor-Park im Herzen von Budapest. Es ist die erste Begegnung mit Imre Kertész, die Janet Riedel nie vergessen wird. Ihr allererster Auftrag nach dem Diplom führt die junge Fotografin für ein Kertész-Heft der Schweizer Kulturzeitschrift „Du" nach Ungarn; im Kopf hat sie wenig mehr als Erinnerungen an die Plattensee-Ferien der Kindheit und Kertész' weltberühmten „Roman eines Schicksallosen". Am meisten fasziniert sie an dem Mann, der das Grauen des Jahrhunderts in allen möglichen Facetten erlebt hat und sie nun wie eine Enkeltochter unterhakt und durch „seine" Stadt führt: dieses Lachen. Ein schallendes Lachen, irgendwo zwischen Zwang und Erlösung; die Autorin Ilma Rakusa hat darüber einen berührenden Text geschrieben. Es ist Kertész' Art, Distanz zu den Absurditäten des Alltags zu gewinnen. Ein Ausdruck von Freiheit. Riedel will dieses Lachen verstehen lernen.

Die „Du“-Geschichte ist im Juni 2005 erschienen, doch das Echo der Begegnung halt nach. Riedel liest weiter; auf einer Reportagereise nach Indien hat sie Imre Kertész’ autobiografischen Roman „Fiasko“ (Berlin Verlag, 1999) im Gepäck, in dem dieser den Versuch eines Neubeginns – nach Auschwitz und Buchenwald – im stalinistischen Budapest schildert, letztlich auch die Entstehungsgeschichte seines Jahrhundertromans. Der Stoff lässt die Fotografin nicht los, eine mehrjährige, fast detektivische Recherchearbeit an den autobiografischen Orten des Autors beginnt. Nicht wenige der authentischen Orte sind nach dem Systemwechsel verschwunden; Straßen haben ihren Namen geändert.

Kertész selbst und zahlreiche neu gewonnene Budapester Freunde helfen bei der Suche nach adäquaten Entsprechungen: Riedel fotografiert in Privatwohnungen oder in einem alten Eisenwerk in Csepel, das für jene Fabrik steht, in der Kertész nach der Kündigung seines Verlags 1951 unterschlüpfen musste, um nicht wegen „gemeingefährlicher Arbeitsscheu“ einkassiert zu werden. Aus dem Restaurant „Südsee“, ebenfalls Schauplatz von „Fiasko“, ist inzwischen eine Bank geworden; Riedel widmet ein Budapester Thermalbad zur Südsee um, als die erfährt, das sich oppositionelle Intellektuelle zu kommunistischen Zeiten gern in den (abhörsicheren) Becken getroffen haben.

Von 2008 bis 2010 entstehen so über 800 Mittelformatfotografien – und die Idee, Kertész’ literarische Erinnerungsbewegung visuell zu adaptieren: in einem Fotoroman. Wie es Riedel gelingt, zwei Erzähl-Medien – Text und Bild – miteinander zu etwas Drittem, Neuen zu verflechten, ist aufregend: In Überlagerungen, ambivalenten Gleichzeitigkeiten und Verdoppelungen zeichnen sich die Spuren der vergangenen Gesellschaftssysteme ab; Gegenwartsfragmente und traumartige Déjà-vus verbinden sich zu einem Ganzen. Literarischer Text und Fotografie treten miteinander in Dialog, der blätternde Leser wird zum Regisseur eines Films im eigenen Kopf.

Während Janet Riedel die parallel entstandene Idee eines „Fotofilms“ während ihres Aufbaustudiums an der HfbK Hamburg mit vielen Helfern verwirklichen kann – „Fiasko - Fragmente nach dem Roman von Imre Kertész“ hat 2011 Premiere und wird unter anderem in der Londoner Tate Modern, in der National Gallery of Art Washington und bei der Hamburger Photographie-Triennale aufgeführt – steht ihr Buchprojekt unter keinem guten Stern. Zunächst scheint sie Glück zu haben: Der Hamburger Corso Verlag will das Buch ins Programm nehmen, eine Förderung durch die VG Bild-Kunst ist ausgereicht. Doch mit der Corso-Insolvenz zerplatzen diese Träume kurz vor der geplanten Drucklegung wie eine Seifenblase. Als sie vom „Sochi-Project“ des holländischen Fotografen und Filmemachers Rob Hornstra erfährt, der eine Langzeit-Doku über den Austragungsort der kommenden Winterspiele nur mit Hilfe einer Crowdfunding-Kampagne realisieren konnte, entschließt sich Riedel, genau diesen Weg zu gehen. Gelingt die Finanzierung über die Crowdfunding-Plattform startnext, kann der Fotoroman nach Kertész’ literarischer Vorlage im Frühjahr 2014 bei Revolver Publishing erscheinen. Für den Berliner Verlag eine Premiere, wiewohl die Schwarmfinanzierung auch auf dem Kunstbuchmarkt stärker an Bedeutung gewinnt. „Es ist ein tolles Projekt, eine künstlerische Position, die definitiv von Bedeutung ist“, sagt Revolver-Lektorin Heike Salchli. „Wir wären glücklich, wenn wir das Buch machen könnten.“

Während der startnext-Countdown langsam heruntertickt, sind die Nachrichten, die Riedel aus Ungarn erreichen, alles andere als beruhigend. Ihr Fotofilm „Fiasko“ ist für ein internationales Dokfilm-Festival eingereicht, das Robert Capa Photography Center in Budapest und das Israelic Cultural Institute haben dafür Unterstützung zugesagt. Doch ob es zur Aufführung, vielleicht verbunden mit einer Buchpremiere, kommt, ist fraglich: Im EU-Land Ungarn hat die extreme Rechte Zulauf, unter Ministerpräsident Viktor Orbán liegen Kunst- und Kulturschaffende am Gängelband der Zensur.

 

Und Imre Kertész? Nach seinen Berliner Jahren, die auf die „Glückskatastrophe“ des Nobelpreises 2002 folgten, lebt der Autor mit seiner Frau Magda heute wieder in Budapest. Aus seinen eben erschienenen Tagebüchern der Jahre 2001 bis 2009 („Letzte Einkehr“, Rowohlt) erfahren wir von seinem Alltag als „domestizierter literarischer Außenseiter“. Sollte er in wenigen Monaten Janet Riedels Fotoroman in die Hand nehmen können, wird er wohl lachen. So schallend und befreit wie damals, 2005, im Városmajor-Park.