Diskussion um Werktreue

"Reaktionärer Infantilismus"

15. Januar 2013
von Börsenblatt
In der Debatte um die Modifizierung von Wörtern in Kinderbüchern melden sich jetzt auch die Befürworter. "Nach anfänglich heftigen emotionalen und unsachlichen Reaktionen bekommen wir nun viele zustimmende Äußerungen vor allem von Eltern und Erziehern", so Thienemann-Sprecherin Svea Unbehaun. In der "Süddeutschen Zeitung" erkennt Burkhard Müller bei den Verfechtern der Werktreue auch reaktionären Infantilismus.

Den "Ethos der unverfälschten Quelle" sieht Kritiker Burkhard Müller nur vorgeschoben: "Um jene Bücher handelt es sich, von denen die beschwerdeführende Generation selbst in ihrer Kindheit sich hat begeistern lassen und die sie darum, aller zwischenzeitlich eingetretenen Veränderungen zum Trotz, den eigenen Kindern genau so weitergeben wollen. Das ist reaktionärer Infantilismus." Kindern fehle der historische Sinn, "der die Unterscheidung zwischen dem Jetzt und einem Früheren (oder anderen) gestattet. Was vorgelesen wird, ist." Für Kinder ab dreieinhalb Jahren bedeute "alles Erzählen eine Ganzkörper-Überflutung, eine Totaldusche, bei der die Gummistiefel der Fußnoten keinen Zweck haben."

Nachdem die "taz" am 4. Januar berichtet hatte, dass in Otfried Preußlers »Kleiner Hexe« einige Wörter wie Neger oder wichsen modifiziert würden, hatte der Thienemann Verlag Hunderte von E-Mails erhalten. Rasch hatte sich die Debatte auf die Kernfrage erweitert, ob Kinderbücher generell verändert werden dürften und wie weit eine political correctness gehen dürfe. Bei boersenblatt.net plädierten in einer Umfrage 64 Prozent von 605 Lesern für die Werktreue bei Kinderbuchklassikern.

Dabei sind Veränderungen, Bearbeitungen und Kürzungen von Texten in vielen Kinderbuchverlagen üblich. "Wir sind nicht der erste Verlag, der Texte behutsam modernisiert, es ist gängige Praxis im Literaturbetrieb", so Unbehaun. "Bei der ›Kleinen Hexe‹ bleibt unsere Entscheidung bestehen, wobei wir jeden Einzelfall sehr genau prüfen. Dabei gilt generell und grundsätzlich, dass eine Änderung nie ohne das Einverständnis des Autors geschieht."