Ex-Verlagsleiter Rutger Booß über Branchenpensionäre

Lebenslänglich Kultur!

13. April 2017
von Börsenblatt
Heißt es "arbeiten dürfen" oder "arbeiten müssen"? Rutger Booß, Gründer des Grafit Verlags, über die Licht- und Schattenseiten, die das Leben eines Branchenpensionärs so mit sich bringt. Und über Verleger, die nicht loslassen können.

Wer 65 Jahre alt oder älter ist, gehört zur Gruppe der Seniorinnen und Senioren. Diese Gruppe wächst beständig und macht in Deutschland inzwischen mehr als ein Fünftel der Bevölkerung aus. Wie steht es um diese Altersgruppe in unserer Branche? Die Inhaber von Buchhandlungen und Verlagen haben das Privileg, nicht mit 65 Jahren aus dem Geschäft ausscheiden zu müssen. Aber welchen Wert besitzt dieses Privileg? Wer als Selbstständiger nicht sozialversichert war und wem es nicht möglich war, Rücklagen zu bilden, muss arbeiten, bis er tot umfällt.

Es gibt aber manche Verleger im Seniorenalter, die aus ihrem Job ausscheiden könnten, es aber nicht tun, weil sie sich für unersetzlich halten. In ihrer Einzigartigkeit haben sie es versäumt, ihre Nachfolge zu regeln. Und selbst wenn sie es versucht haben: Es scheint einfach keinen Menschen zu geben, der würdig wäre, in die Fußstapfen ihrer Genialität zu treten. Und so ackern sie unverdrossen weiter und ihre Mitarbeiter können nur hoffen, dass die Altersmilde den Altersstarrsinn besiegt.

Helle und dunkle Seiten

Den Buchhändlern gebieten Höflichkeit und Geschäftssinn, auch alte Zausel als Kunden rücksichtsvoll zu behandeln. ­Senioren haben bekanntlich, wie alle Menschen, eine helle und eine dunkle Seite. Die helle Seite realisiert sich, wenn Omas zügig den Empfehlungen der Buchhändlerin folgen, reichlich Kinderbücher für ihre lieben Enkelkinder einkaufen und so den Lagerumschlag auf Trab bringen. Ihre dunkle Seite zeigt sich, wenn sie vergessen haben, was sie eigentlich kaufen wollten oder wenn sie, von einsamkeitsbedingtem Mit­teilungsbedürfnis getrieben, die Sortimenterin vollquatschen, die eigentlich dringend frische Ware auspacken und ein­räumen müsste.

Angestellte Buchhändler oder Verlagsmitarbeiter, die Jahrzehnte lang gearbeitet haben und dann selbst Senioren sind, sind nicht auf Rosen gebettet. Als Rentner haben sie ihr berufliches soziales Umfeld verloren und müssen große finanzielle Einbußen hinnehmen.

Einziger Trost der Exsortimenter: Sie sind nicht mehr in der Mühle mit den elenden Arbeitszeiten des Einzelhandels eingespannt – doch wenn ein Rentner gezwungen ist, seine spärliche Rente durch einen 450-Euro-Job aufzubessern, entfällt möglicherweise auch dieser Altersbonus. Die großen Konzerne waren einmal führend in der betrieblichen Altersversorgung. Inzwischen sind sie dabei, diese abzubauen. Und die kleinen Betriebe der Buchbranche konnten sich so etwas Gutes für Mitarbeiter noch nie leisten.

Und was kommt dann? 

Eine wichtige Frage harrt noch ihrer Antwort. Womit beschäftigen sich eigentlich die altersmäßig ausgemusterten Spitzenkräfte unserer Branche? Der pensionierte Gynäkologie-Chefarzt Prof. Zangemeister veröffentlicht seine Memoiren – wahrscheinlich in einem der bekannten Zuschussverlage – unter dem Titel: "Meine schönsten Kaiserschnitte". Der Politiker im Ruhestand schreibt Erinnerungen, die sich Parteifreunde gegenseitig zu Weihnachten schenken. Aber wo gibt es echte Memoiren von Verlegern? "Ein Leben für die Kultur. Wie ich Autorenhonorare drückte und Krieg gegen die überzogenen Forderungen der Buchhändler führte", könnte ein Titel lauten. Und wo sind die Erinnerungen eines großen Filialisten? "Weg mit den Mitbewerbern! Wie ich eine Filiale nach der anderen aufmachte."

Die Branche wartet sehnsüchtig auf diese Bestseller.

Rutger Booß ist Gründer des Grafit Verlags. Die Verlagsleitung hat Booß vor sieben Jahren, zu Beginn seines Ruhestands im Alter von 66 Jahren, abgegeben.