Filialisten: Osianders Wachstumspläne

Nr. 1 im Süden

4. Mai 2018
von Börsenblatt
Osiander peilt für die Zukunft ein Filialnetz von 80 bis 90 Buchhandlungen in Süddeutschland an. Ein Gespräch mit Osiander-Geschäftsführer Christian Riethmüller über Wachstumspläne des Filialisten, den Charme der Mittelstädte, Gesprächsbedarf mit den Verlagen und Eisverkauf in Tübingen. 

Die Buchhandlung Viola Taube in Nordhorn soll auch Ihnen – noch vor Thalia – angeboten worden sein. Haben Sie an eine Expansion ins Emsland gedacht?
Wir haben das geprüft. Das Hauptargument dafür, abzusagen, war tatsächlich der Norden. Auf einer Strategiesitzung Anfang des Jahres haben wir uns festgelegt: Osiander will südlich von Frankfurt stationär die klare Nummer 1 im Buchhandel sein. Wir werden in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern wachsen, aber ganz bewusst nicht nördlich davon. Schmunzeln musste ich, als das Management von Thalia jetzt im Börsenblatt die Übernahme in Nordhorn als Beleg dafür ausgab, dass inhabergeführte Buchhandlungen insbesondere Thalia vertrauen. Ich kenne einen weiteren Regionalfilialisten, der Viola Taube zuvor abgelehnt hatte.

Schließt »wachsen südlich von ­Frankfurt« andere Optionen aus?
Nein. Wenn ich zum Beispiel auf Sylt, wo viele Touristen sind, eine Buchhandlung angeboten bekomme, würde ich das nicht ausschließen. Aber wir konzentrieren uns auf Süddeutschland. Osiander ist hier die starke Marke, wir werden von Städten angesprochen. Der Süden hat eine positive Bevölkerungsentwicklung und eine andere Kaufkraft als der Norden. Das ist ja auch der Grund, weshalb sowohl Rupprecht als jetzt auch wieder Thalia mit Vollgas in Süddeutschland expandieren wollen. Thalia »­kopiert« jetzt eben unsere Strategie, in süddeutschen Mittelstädten kleinere Flächen zwischen 200 und 400 Quadratmetern aufzumachen, was uns ja bestätigt.

Vor einem Jahr haben Sie als Zielgröße für Ihr Wachstum eine Zahl von 60 bis 70 Läden genannt. Revidieren Sie die?
Ja. Wir haben jetzt 50 Filialen, machen nächsten Monat in Lindau die 51. auf, haben fünf weitere unterschrieben und sind an fünf weiteren dran. Ich gehe davon aus, dass wir Mitte 2019 bei 60 Läden sein werden und denke, wir werden irgendwann bei 80 bis 90 Geschäften angekommen sein. Arg viel mehr werden es aber nicht werden, denn so viele Städte in Süddeutschland gibt es gar nicht mehr, wo nicht schon ein vernünftig aufgestellter Wettbewerber vor Ort ist.

Verdrängen wollen Sie also nicht?
Nein. Entweder übernehmen wir, oder wir gehen in Städte, wo der Buchhandel nicht in der Lage und Größe präsent ist, wie es der Standort wirtschaftlich hergeben würde. Wir möchten nachhaltig wachsen, deshalb verzeichnen wir in den letzten Jahren auch mehr Übernahmen als Neueröffnungen.

Schafft denn Ihr zentraler Waren­eingang auch 90 Filialen?
Ja, das kriegen wir hin. Irgendwann wird es etwas eng, aber die Kapazität ist da. Das Band kann man erweitern, die Fläche noch etwas vergrößern. Es gibt ausreichend Bürofläche. Wir haben die Infrastruktur und die Routinen, Übernahmen mittlerweile fast nebenher ablaufen zu lassen.

Thalia bewirbt sich um Übernahmen mit dem Versprechen, sich individuell mit den Bedürfnissen der Inhaber auseinanderzusetzen. Das kommt gut an.
Das tun wir auch. Sie merken in Hagen, dass die Mayersche, Rupprecht und Osiander stark expandieren – und nun spielen sie auf nett. Ich selbst finde Thalia heute viel sympathischer. Früher waren es Douglas oder Advent, heute sind es Herder und Busch. Dennoch, Thalia wird nicht von einer Familie geführt, und eingekaufte Manager, die morgen vielleicht nicht mehr da sind, sind Verhandlungspartner bei Übernahmen. Die Nähe, die wir mitbringen, wird bei Thalia nie in gleicher Weise gegeben sein, ebenso wenig die Nachhaltigkeit. Mein Vater, mein Onkel und ich gehen oft zu dritt zu einer Inhaberfamilie und verhandeln mit denen. Wir können viel individuellere Vereinbarungen treffen, wie wir das zum Beispiel in Wangen mit Frau Feßler gemacht haben (siehe Seite 13). So entstehen Konzepte, die auf Bestehendes setzen.

Ist die Welt wirklich so schwarz-weiß? Auch Regionalfilialisten, wie man hört, beauftragen Vermittler damit, Über­nahmekandidaten anzusprechen.
Das mag sein. Osiander hat es noch nie gemacht. Wir sprechen Inhaber direkt an. In Einzelfällen haben wir auch schon Briefe verschickt, aber in den letzten fünf Jahren sicher nicht mehr als zehn. Agenturen würden wir nie beauftragen, unsere Stärke liegt ja gerade im persönlichen Gespräch.

Im Einzelhandel werden gegenwärtig viele Flächen angeboten. Was bedeutet das für Ihre Expansionspläne?
Wir haben eine besondere Situation: Dadurch, dass die Textiler so schwächeln, hören viele auf. Ich bekomme fast täglich in ganz Baden-Württemberg Flächen angeboten, von Gerry Weber, Esprit, Tom Tailor, S. Oliver, Bonita, Cecil und wie sie alle heißen. Top-Flächen zwischen 150 und 400 Quadratmetern in Toplagen, genau das, was du in einer Mittelstadt brauchst. Und natürlich bekommen das die anderen auch. Das bringt Beschleunigung in das Thema. Wenn jetzt in einer Stadt der Buchhandel in einer 1-b-Lage ist, dann wird an solchen Standorten in den nächsten Jahren definitiv ein Buchhändler in die 1-a-Lage gehen. Für das Szenario gibt es drei Möglichkeiten: Der örtliche Buchhändler macht es selber, dann ist das gut so. Oder es kommt ein anderer Filialist. Oder wir machen es. Buchhandel in 1-b-Lage bedeutet, dass der Buchhandel auf Mehrumsatz verzichtet und das Feld Amazon überlässt. Kann das das Ziel sein? Deshalb ziehen wir gerade in einigen Städten auch in 1-a-Lagen um.

Woher nehmen Sie den Expansionsschwung in Zeiten rückläufiger ­Frequenzen und Käuferzahlen?
Der Buchhandel ist besser aufgestellt als die meisten anderen Handelsbranchen. Ich kenne keine, in der so viele familien­geführte Betriebe expandieren – und das auf einem der härtesten Märkte der Welt mit Amazon als Wettbewerber. Wir alle haben den Mut, weiterzumachen. Das sollte den Verlagen ein Zeichen sein. Vielleicht unterstützt man künftig nicht zuerst Amazon, sondern diese risiko­bereiten Unternehmer.

Was erwarten Sie von Ihren Handelspartnern? 
Zum einen haben wir immer noch zu viele Titel in zu großen Auflagen bei zu kleinen Preisen. Der neue Dan Brown, der jetzt als Taschenbuch kommt, kostet zwölf Euro. Ich verstehe es nicht. Der muss 15 kosten, Minimum. Ein zweiter Punkt, der mich ärgert, ist, dass entlang der Logistikkette alle Kosten beim Buchhändler bleiben: Das Buch kommt auf unsere Kosten zu uns. Wir geben ihm im Laden in teurer Premiumlage ein Schaufenster. Wenn wir es nicht verkaufen, remittieren wir es auf eigene Kosten – damit es dann wieder billig auf dem Markt angeboten wird; und wenn wir Pech haben, landet es bei Edeka, Rewe, Kaufhof, Kick oder Ernsting’s family. Das kann es nicht sein.

Auch der Verlag riskiert zunehmend viel. Er kauft teuer ein, muss auf hohen Absatz spekulieren, investiert in Technik und Prozesse. Glauben Sie, gerade jetzt eine Debatte über Kostenverteilung in Gang bringen zu können?
Wir müssen sie führen, und wir werden sie führen. Wenn wir an einem guten Standort in einer Mittelstadt für eine 300-Quadratmeter-Fläche 10 000 Euro Miete im Monat zahlen und uns auf zehn Jahre verpflichten, macht das 1,2 Mil­lionen Euro. Dann investieren wir 250 000 Euro in den Laden. Zusammen mit den Personalkosten liegen Sie bei knapp drei Millionen Euro Kosten auf zehn Jahre gerechnet. Das Risiko tragen wir allein. Die Verlage profitieren, weil Menschen dort vorbeikommen, die sonst bei Amazon eingekauft hätten – zu wesentlich schlechteren Margen für die Verlage. Unsere Strategie, in SAP, in Umbauten und Übernahmen zu investieren, kostet so viel Geld, dass wir die Konditionen – und da rede ich nicht nur von den Rabatten – mit den Verlagen neu verhandeln müssen.

Noch einmal zu Ihren Expansionsplänen: Die Großstädte sind durch für Sie?
Die Großstädte sind verteilt. Die Mieten sind hoch, der Wettbewerb ist stark. Viele Großstädte sind austauschbar – anders als die Klein- und Mittelstädte. Wir konzentrieren uns deshalb, neben der Expansion, auf die Weiterentwicklung unserer bestehenden Standorte. In Tübingen sind wir umgezogen, in Biberach werden wir dieses Jahr noch umziehen, 2020 in Esslingen und Schwäbisch Gmünd, in Aalen sind wir auf eine Fläche gegangen. Reutlingen, Konstanz und Bamberg bauen wir in diesem Jahr groß um und investieren dafür hoch sechsstellig.

Wird Reutlingen kleiner?
Nein. Aber es gibt eine neue Einrichtung, wir investieren in Atmosphäre, wir wollen die Kassenstandorte bündeln und wir werden die Warengruppenstruktur neu anordnen. Früher hat man gesagt: Kinderbuch ins Erdgeschoss, oben Belletristik. Heute nehmen wir, wenn der Platz es hergibt, beides ins Erdgeschoss. Die populären Warengruppen müssen für die Kunden schnell erreichbar sein und übersichtlich präsentiert werden. Der Kunde ist faul geworden im Internet.

Was ist Ihren stationären Kunden heute am wichtigsten?
Wenn wir sie fragen, nennen sie nicht die größte Auswahl, auch nicht den besten Service oder die höchste Beratungskompetenz, sondern die Orientierung im Laden und die Sortierung. An zweiter Stelle kommt die Atmosphäre. Da müssen wir liefern, deshalb investieren wir so viel in die Aufenthaltsqualität. Eine immer größere Rolle spielen Sitzgelegenheiten.

Passt denn da noch die »Powerselling«-Parole Ihrer Porsche-Berater?
Die Idee war es, Mitarbeiter zu benennen, die den ganzen Tag über Powerselling machen, also nichts anderes tun als Kunden zu beraten und ihnen etwas zu verkaufen. Inzwischen haben wir gelernt, dass sich die Anweisung, jeden Kunden nicht nur zu begrüßen, sondern aktiv anzusprechen, nicht umsetzen lässt, weil viele Kunden das gar nicht wollen. Neun von zehn Kunden, die zu uns kommen, wollen keine inhaltliche Beratung. Die wollen also auch nicht dauernd gefragt werden: »Wie kann ich Ihnen helfen?« Die wollen eher mal wissen, wo ein Buch steht oder ob wir ein Buch vorrätig haben. Die nonverbale Kundenorientierung nimmt an Wichtigkeit zu. Das A und O ist die Präsentation der Bücher.

Wie wichtig ist die Sortimentsbreite?
Wir haben zu viel Ware im Laden, nicht zu wenig. Überfrachtung gefährdet den Überblick. Die größte Herausforderung wird sein, jenseits der aktuellen Titel und der Bestseller immer wieder Überraschendes für die Kunden zu finden. Die Kunst ist es, Bestseller, Aktuelles und wertvolle Backlisttitel so zu präsentieren, dass der Kunde Lust bekommt, sie durchzublättern. Hier den richtigen Mittelweg zu finden, ist für ein Filialunternehmen mit 50 in der Fläche unterschiedlichen Läden nicht trivial. Hinzu kommt, dass wir ja auch ein individuelles Sortiment für die jeweilige Stadt anbieten möchten. In Tübingen kaufen wir viel anspruchsvollere Belletristik als zum Beispiel in Böblingen. Die Einführung von SAP Anfang 2019 wird uns im Einkauf die Möglichkeiten bieten, die wir dann brauchen.

Was kostet Sie SAP?
Knapp drei Millionen Euro.

2017 war in der Osiander-Historie das Jahr mit den höchsten Investitionen. Überbieten Sie das 2018 noch einmal?
Ja. Wir werden acht Millionen Euro in­vestieren. Nach Steuern haben wir einen Gewinn von einer Million und einen Cashflow von knapp drei Millionen, bei zwei Millionen Abschreibungen. Fünf Millionen Euro nehmen wir für diese Investi­tionen neu auf. Natürlich kommen uns die anhaltenden Niedrigzinsen am Kapitalmarkt zugute. Aufgrund der Gewinne, die wir trotz aller Investitionen in den vergangenen Jahren hatten, glauben auch die Geldgeber an uns. Mein Ziel ist es, in fünf bis zehn Jahren wieder schuldenfrei zu sein. Wir haben im letzten Jahr auch den Eigenkapitalanteil wieder auf etwas über 35 Prozent erhöhen können.

Haben Sie in der Familie und im Unternehmen Konsens bei der Strategie?
Mein Vater, mein Onkel und ich haben über die prinzipielle Ausrichtung von Osiander absoluten Konsens, insbesondere zur Expansion und zu Investitionen. Auch bei den Führungskräften haben wir in Fragen der Umsetzung unserer Strategie Einigkeit. Natürlich gibt es zu einzelnen Themen auch mal unterschiedliche Ansichten. Aber das macht Osiander stark, weil hier drei Generationen arbeiten, die unterschiedlich ticken. Seltsamerweise ist es so, dass heute, wo wir viel mehr und größere Projekte angehen, der Konsens innerhalb der Familie höher ist, als er es früher war.

Sie sagen »Buch. Bücher. Osiander«. In Tübingen steigen Sie jetzt aber in den Eisverkauf ein. Passt das zusammen?
Bei Neueröffnungen verzichten wir im Moment auf diesen Claim. Ob wir einen anderen brauchen, wird gerade diskutiert. Klar ist jedenfalls: Die Ansage »Bücher pur« trifft auf uns nicht ganz zu, 30 Prozent des Umsatzes machen wir mit anderen Sachen – Kalendern, Hör­büchern, Tolino, Geschenkartikeln.

Alles näher am Buch als Gelato.
Wir haben am Tübinger Holzmarkt gegenüber der Stiftskirche unseren Azubi-Laden mit Postkarten, Bestsellern und Sonderangeboten. Der Umsatz dort ist rückläufig. Vor anderthalb Jahren habe ich in Bad Säckingen den Eisverkäufer von Giovanni L. gesehen – Franchisefilialen mit preisgekrönt gutem Eis. Da kam uns diese Idee. Der Laden am Holzmarkt verliert nur zehn Quadratmeter, wir brechen das Schaufenster auf, bauen eine Theke rein und werden etwa 20 Sorten Eis verkaufen. In dieser 1-a-Lage wird uns das eine deutliche Ertragssteigerung bringen.

Demnächst dann auch Würstchen oder frisch gepresste Säfte?
Bei den Säften wäre ich sofort dabei, bei den Würstchen nicht – wegen des Geruchs.

Beispiel: Übernahme der Buchhandlung Ritter

Von der Inhaberin zur leitenden Angestellten: Die Buchhandlung Ritter feierte 2017 ein Jubiläum - seit 70 Jahren versorgt sie die 27 000-Einwohner-Stadt Wangen mit Büchern – zur Zufriedenheit einer treuen Stammkundschaft. Der Standort lag allerdings etwas abseits der Fußgängerzone. Die letzten 18 Jahre der Ära Ritter führte Barbara Feßler als Inhaberin das Sortiment. Mit Nachfolgegedanken habe sie sich »erst ganz sanft beschäftigt, aber zum nächsten Jubiläum in fünf Jahren wollte ich das eigentlich geregelt haben«. 

Es ging schneller. Und das kam so: Die Stadtbuchhandlung, ein kleiner Filialist in Oberschwaben, wollte vorzeitig aus ihrem Mietvertrag aussteigen. Damit kam eine attraktive Fläche im Herzen der Altstadt auf den Markt und wurde den Filialisten Rupprecht und Osiander angeboten. Barbara Feßler kam durch Vermittlung ihres Erfa-Gruppen-Coachs Jörg Winter in Kontakt mit Christian Riethmüller. Dessen Angebot, Ritter zu übernehmen und mit ihr als Filialleiterin gleich an den Standort in der Fußgängerzone umzuziehen, überzeugte sie. 

Sie habe zugesagt auf der Basis einer Mischung aus »starken Argumenten und gutem Bauch­gefühl«, meint sie rückblickend. Auf der Habenseite stand: »Der Laden wird schön. Osiander hat die finanziellen Mittel, die mir gefehlt hätten, um auf eigene Faust auf diese Fläche zu gehen. Alle meine Mitarbeiterinnen bekamen ein Angebot, dass sie mitgehen können.« Der emotionale Eindruck von den Gesprächen habe sie zusätzlich bestärkt – »fair, positiv, eine optimistische Ausstrahlung der Riethmüllers, die einen gleich für die Sache einnahm«.

Ein Vierteljahr nach ihrem Rollenwechsel von der Inhaberin zur leitenden Angestellten hat Barbara Feßler immer noch das Gefühl, es richtig gemacht zu haben. »Wir hatten vom ersten Tag an eine unglaubliche Frequenz. Es war viel Arbeit, es gab viel Neues zu lernen, wir brauchten andere Abläufe.« Die größte Umstellung für das Team sei der Zentraleinkauf gewesen. »Wir kommen klar damit«, sagt die Chefin, die nun Chefs hat. »Aber wir merken jetzt, dass wir uns auch selbst einen Überblick über die Verlagsprogramme verschaffen müssen, um eigene Akzente setzen zu können.« Denn die seien ja »durchaus erwünscht«.