Friedenspreis für Margaret Atwood - der Festakt in der Paulskirche

"Warum wachsen uns Fangzähne?"

14. Oktober 2017
von Börsenblatt
Auch die ausklingende Frankfurter Buchmesse hat es gezeigt: Einen Friedenpreis, der den Einsatz für Menschenrechte und Meinungsfreiheit honoriert, hat die Welt im Moment bitter nötig. "Was ist das nur für ein seltsamer historischer Augenblick?", fragte die frisch gekürte Friedenspreisträgerin 2017, Margaret Atwood, am Sonntag in ihrer Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche: "Erst gestern waren wir von so viel gutem Willen beseelt. Und jetzt?"

Die kanadische Schriftstellerin fing den Geist der Zeit in einer Paulskirchen-Rede ein, die sie schon länger vorbereitet hatte, die aber besonders unter dem Eindruck der Tumulte bei einem Buchmesse-Auftritt von AfD-Politiker Björn Höcke am Samstag hochaktuell war. Denn die Friedenspreisträgerin ging auch auf die jüngsten Wahlergebnisse in Deutschland und das Erstarken der Neuen Rechten ein: "Diese Gruft hielt man bislang für verschlossen, doch irgendjemand besaß den Schlüssel und hat die verbotene Kammer geöffnet – was für ein Ungeheuer wird daraus geboren?", so Atwood, die bei einer kurzen Analyse zum Weltgeschehen die Schlüsselfrage stellte: "Warum wachsen uns Fangzähne?"

Antworten lieferte sie mit ihrem feinen Sinn für Humor und einer kleinen Fabel vom Wolf im Schafspelz ("oder im Wolfspelz"), der einen starken Anführer und eine perfekte Welt verspricht, dafür jedoch erst einmal die Zivilgesellschaft abschaffen will, denn sie sei zu weich - und dabei andere systematisch ausgrenzt. "Ja, wissen wir, werden Sie sagen. Wir haben die Märchen gelesen. Wir haben Science Fiction gelesen. Man hat uns gewarnt, schon oft. Aber irgendwie hilft es nicht unbedingt, zu verhindern, dass diese Geschichte sich in menschlichen Gesellschaften immer wieder von neuem abspielt."

"George Orwell sah mir über die Schulter"

Mit der Fabel vom Wolf spielte Atwood auf eine Lektüre ihrer Kindheit an: Die gesammelten Grimms Märchen. Ohne diese Geschichten – "so clever, so fesselnd, so komplex, so gruselig, so vielschichtig, doch stets mit einer Endnote der Hoffnung, die einem das Herz bricht, weil sie so unwahrscheinlich ist" – hätte sie nie ihren "Report der Magd" schreiben können, meint die Friedenspreisträgerin.

Mit der Arbeit an ihrem bekannten dystopischen Roman über eine totalitäre Gesellschaft begann sie 1984 ("Ja, George Orwell sah mir dabei über die Schulter") – und zwar auf einer gemieteten Schreibmaschine in West-Berlin. "Jenseits der Mauer lagen Ost-Berlin, und die Tschechoslowakei, und auch Polen – Länder, die ich damals alle besuchte", erinnerte sich Atwood in der Paulskirche: "Ich weiß noch, was die Leute damals zu mir sagten, und was sie nicht sagten. Ich erinnere mich an die vielsagenden Redepausen. Ich erinnere mich an das Gefühl, das ich selbst hatte, aufpassen zu müssen, was ich sage, denn ich könnte unwissentlich jemanden in Gefahr bringen. Das alles fand Eingang in mein Buch." In ein Buch, das heute, gut 30 Jahre später, wieder aktuell sei, "denn plötzlich wirkt es nicht mehr wie eine weit hergeholte, dystopische Fantasie."

Literatur mit politischer Wirkung

Nicht zuletzt für diesen Roman hat sie in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen. Die kanadische Schriftstellerin, Essayistin und Dichterin zeige in ihren Romanen und Sachbüchern immer wieder ihr politisches Gespür und ihre Hellhörigkeit für gefährliche unterschwellige Entwicklungen und Strömungen, heißt es in der Begründung der Jury. An Margaret Atwoods Werk werde besonders deutlich, "wie Literatur sein muss, um auch eine politische Wirkung zu entfalten", ergänzte die Schriftstellerin Eva Menasse am Sonntag in ihrer Laudatio auf die große kanadische Kollegin. Und: "Ihr ist etwas gelungen, was nach wie vor die Ausnahme ist: als Frau auf dem Gebiet der Literatur ein Weltstar zu werden."

Ihre Erzählungen seien realistisch, wahrhaftig, und immer ein wenig beispielhaft. "Vor allem zeigen sie die anderen Möglichkeiten auf. Möglichkeiten liegen ja überall und in allem", so Menasse: "Indem wir leben, treffen wir ständig Entscheidungen, die Möglichkeiten vernichten. Nur im Schreiben kann man sie wieder lebendig machen, die Varianten ans Licht holen, lachen und weinen darüber, was alles möglich gewesen wäre." Dreh- und Angelpunkt aller Dystopien von Margaret Atwood sei die Umweltzerstörung, denn: "Wenn der Lebensraum knapp wird, ist der Rückfall in alle denkbaren Totalitarismen nur folgerichtig."

Als "Mahnerin für Frieden und Freiheit" würdigte auch Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller die Preisträgerin. Mit ihren Gedichten schärfe Margaret Atwood den Blick für das Leben in all seinen Facetten, für seine Ungewissheiten, seine Widersprüche, seine Schönheiten. Mit den Romanen jedoch öffne sie ihren Lesern auch die Augen dafür, "wie düster eine Welt aussehen kann, wenn wir unseren Verpflichtungen für ein friedliches Zusammenleben nicht nachkommen."

Für Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann ist die Kanadierin deshalb geradezu eine idealtypische Preisträgerin: Schließlich sende der Preis, der seit 1950 vergeben wird, "eine klare Botschaft in die Welt" – und erinnere an die politische Dimension der Kunst. "Die Paulskirche steht für unseren Begriff von Freiheit, für Literatur, die sich nicht versteckt, für Siege, aber auch für Niederlagen der Demokratie", so Feldmann: "Die Welt braucht weniger Spalter, weniger Trump, weniger Hass - und mehr Toleranz und Solidarität."

Der Friedenspreis wird seit 1950 vom Börsenverein vergeben und ist mit 25.000 Euro dotiert. Das ZDF hat die Friedenspreisverleihung wieder live übertragen - hier geht es zum Beitrag in der Mediathek.