Gastspiel von Michael Schikowski

Dialektik des Digitalen

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Gedruckte Bücher können nicht auf Knopfdruck aus dem Verkehr gezogen werden. Irgendwo wird sich immer noch ein Exemplar finden. Ein Vorteil, den kein E-Book aufwiegen kann. Meint der Sachbuch-Blogger Michael Schikowski.

Im Jahr 2009 stellte man bei Amazon fest, dass man ein E-Book vertrieben hatte, an dem man keine Rechte besaß. Es handelte sich − Ironie der Geschichte − um George Orwells "1984", und Amazon reagierte dann auch gleich wie in der von Orwell geschilderten Welt: Jeff Bezos entschuldigte sich kurz und der Text wurde von der Zentrale per Knopfdruck auf dem Kindle ­gelöscht. Das heißt, "auf dem Kindle", ist vielleicht falsch.

Wenn der Lizenzgeber der E-Books − aus was für Gründen auch immer − dem Lizenznehmer das Konto sperrt, über das sie verwaltet werden, wird man auch auf diejenigen Bücher nicht zugreifen können, die bereits gekauft wurden. Man stelle sich vor, auf seine Bücher nur dann Zugriff zu haben, wenn man im Sinne eines internationalen Konzerns brav war und neue dazukauft.

Die Begriffe, die wir uns im Umfeld der Digitalisierung arglos zu gebrauchen angewöhnt haben, sind vielleicht schon längst dabei, uns und auch die Kunden zu foppen. Nicht alles, was man auf dem Reader hat, ist auch wirklich drauf, das E-Book ist gar kein Buch − und nun ist das, was man so landläufig als Eigentum versteht, nichts weiter als ein mehr oder weniger fragiler Zugang.

Es sind aber nicht allein diese unscharfen Semantiken, die zu Irrtümern in der Sache führen. Auch die Sache selbst wird prinzipiell missverstanden, wenn man Buchkultur − wie das sehr häufig in der Debatte zur Digitalisierung geschieht − als medien- und vermittlungsunabhängig ansieht. Die Buchkultur in Deutschland ist ein soziales Phänomen, das sich dem Medium Buch und der Vermittlung durch Familie, Schule und Universität verdankt. Buchkultur ist keine medienunabhängige Textkultur und kein sich irgendwie individuell bildender Habitus. Und es ist eben diese soziale Basis, die auch die Grundlage der Digitalisierung bildet.

Hinzu kommt: Die Vorstellung einer vorgeblichen digitalen Allzugänglichkeit der Digitalisate manipuliert die bisherige Publikationsgeschichte. In dieser Lesart scheinen nämlich paradoxerweise die gedruckten Exemplare eines Buchs für seine Verknappung zu sorgen. Das Buch ist danach nur an dem Ort einsehbar, an dem sich mindestens ein Exemplar befindet. Im Vergleich zur Allzugänglichkeit als Digitalisat wird das gedruckte einzelne Buch anscheinend zu etwas Elitärem.

Die mit viel Enthusiasmus verbreitete Vorstellung, dass neuere Entwicklungen alles andere in den Schatten stellen, ist nur zu naheliegend. Auf längere Sicht betrachtet, könnte sich aber zeigen, dass das Neue die Vorteile des Alten nur noch deutlicher vor Augen führt. Eine Dialektik des Digitalen.

Wer ein Buch in welcher Auflage auch immer druckt, stellt mit der Verbreitung des Buchs Öffentlichkeit her. Selbst eine kleine Auflage ist im Unterschied zum E-Book, das per Knopfdruck aus dem Verkehr gezogen werden kann, eine kaum zurücknehmbare Veröffent­lichung. Irgendwo wird sich immer noch ein Exemplar finden, auch jenseits von Amerika, auch in politisch schwierigen Zeiten und nach 500 Jahren! Wer wirklich sichergehen will, muss Bücher machen.