Gastspiel von Michael Schikowski über Digitalisierung und Bibliotheken

Formate der Freiheit

6. Juli 2015
von Börsenblatt
Die Digitalisierung verspricht den offenen Zugang zu Inhalten. Fatalerweise werden Bücher und Bibliotheken dabei zu Begrenzungen umgedeutet. Meint Sachbuch-Blogger Michael Schikowski.

Digitalisierung, so die verbreitete Meinung, rettet Buchbestände vor der Zerstörung. Das muss nicht bewiesen werden. Bislang reicht die Stimmung, die zum Beispiel dazu führt, dass man im klammen Stadtrat von Stralsund den Verkauf von über 6.000 Bänden der historischen Gymnasialbibliothek beschließt. Diejenigen, die eigentlich mit der Bewahrung beauftragt sind, konstatieren den schlechten Zustand der Sammlung und empfehlen den Verkauf.

Woran liegt es genau, dass plötz­lich sogar beim Fachpersonal der Sinn für den Wert kulturhistorischer Sammlungen zu fehlen scheint? Es ist, als hätte uns alle eine Stimmung erfasst. In ihrem Buch "Die stille Revolution« verleiht Mercedes Bunz, vom Verlag als "Vordenkerin der Digitalisierung" präsentiert, dieser Stimmung unmissverständlich Ausdruck:

"In den Lesesälen der Bibliotheken sitzt jeder isoliert vor seinem Buch, es darf weder mit dem Nebenmann bzw. der Nebenfrau geplaudert noch telefoniert werden. Zudem kann man schlecht aufstehen, ohne die Nachbarn zu stören oder zu signalisieren, dass man weniger fleißig ist als sie. Den Saal verlassen darf man im Prinzip erst dann, wenn einem vor lauter neuem Wissen der Kopf raucht. Genau dieser Aufwand ist mit dem Internet jetzt überflüssig: Sogar Spezialwissen ist nun relativ einfach aufzufinden – zuvor fast ein Ding der Unmöglichkeit."

Der Raum, der in der Geistes­geschichte immer noch die größte geistige Freiheit gibt, wird hier zu einem Ort uminterpretiert, der an eine mehr oder weniger geschlossene Abteilung erinnert. Die Formate, ob als Formate des Buches oder der Zeitung, als Formate bestimmter Räume, als Formate bestimmter Zeiten, waren einmal schwer erkämpfte Freiräume und Freizeiten, die alles abschirmten, was die Konzentra­tion stören konnte.

Buch und Bibliothek s ind daher Formate der Freiheit. Endlich war man einmal auf eigene Interessen konzentriert, auf etwas anderes als Arbeit und – im Duktus der 1960er – mit etwas anderem beschäftigt als Kindern, Küche, Kirche.

Bei Mercedes Bunz werden diese Freiräume nun zu Begrenzungen umgedeutet. Der digitalen Gemeinde erscheinen in der Folge dieser Sichtweise alle Begrenzungen, ob nun Bibliotheksöffnungszeiten oder das Urheberrecht, als nahezu undemokratische Maßnahme.

Die Formatentbindung durch die Digitalisierung wird als Befreiung wahrgenommen: als Befreiung aus der zeitlichen Befristung durch Öffnungszeiten der Bibliothek und als Befreiung aus der räumlichen Begrenzung als Buch. Mithin erscheinen Buch und Bibliothek als veraltete Institutionen der Buchkultur, ja geradezu als Institutionen der Unfreiheit. Man selbst wird Teil einer strahlenden digitalen Zukunft. Und vielleicht, wie um sich das zu beweisen, überließ man auch deshalb in Stralsund die Bücher dem Verfall.

Ist das nur die Spitze eines Müllbergs? Buch und Bibliothek sind Voraussetzung der Demokratie. Sie nun als undemokratisch zu denun­zieren, weil sie räumliche und zeitliche Bindungen des Nutzers voraussetzen, und ebenso die Bereitschaft zu Geduld und Konzentration, ist ein schweres Missverständnis.