Gemeinfreie Werke

Die Renaissance der Klassiker

13. Januar 2010
von Börsenblatt
Zu Jahresbeginn setzt in der deutschen Buchbranche erneut eine Art Klassikerfieber ein. Grund: Ist ein Autor länger als 70 Jahre tot, sind seine Werke  nach Paragraf 64 Urheberrechtsgesetz gemeinfrei – dürfen also ohne Autorenhonorare publiziert werden. 2010 gilt das für all jene, die 1939 gestorben sind, darunter der Psychoanalytiker Sigmund Freud sowie die Autoren Joseph Roth und Ernst Toller.

Folgen hat das diesmal vor allem für den Österreicher Joseph Roth. Seine Werke („Hiob“, „Radetzkymarsch“ u.a.) erleben eine regelrechte Renaissance: Gleich mehrere Verlage bringen in den nächsten Wochen Neuausgaben von Roths Œuvre auf den Markt – darunter Diogenes, der Insel Verlag (Suhrkamp) und Wallstein, aber auch MA-Verlage wie Anaconda und Marix.

Kiepenheuer & Witsch, Rechte-Inhaber seit 1949, kontert mit einer optisch runderneuerten und preisgünstigen Taschenbuch-Edition (22 Bände). »Die Gemeinfreiheit bedeutet für uns einen harten Einschnitt«, meint Sprecherin Gudrun Fähndrich. »Andererseits haben wir immer viel für Roth getan, das Publikum wird das goutieren.«  Nach eigener Aussage konnte Kiepenheuer & Witsch bis heute 2,5 Millionen Exemplare der Roth-Titel verkaufen (Gesamtauflage im deutschsprachigen Raum).  

S. Fischer, Hausverlag von Sigmund Freud, hat Anfang 2010 den Exklusivzugriff auf die Werke des Psychoanalytikers verloren. Ähnlich wie bei Franz Kafka (2005) oder Arthur Schnitzler (2002) bereitete sich der Verlag über Jahre auf diesen Moment vor – etwa durch »sorgfältige Editionen und Kommentierungen«, wie Sprecher Martin Spieles sagt. Auf diese Weise sei die Nähe der Autoren zu S. Fischer eher größer als kleiner geworden. Einem Einbruch der Verkaufszahlen habe man bislang jedenfalls immer gegensteuern können.

Ohnehin: Fischer hat ebenfalls eine Klassiker-Reihe (Fischer Taschenbuch) im Programm – nutzt also ebenfalls die Chance der Stunde, sobald sie schlägt. Spieles: „Im Grunde ist es für uns ein Geben und Nehmen.“ Wie viele Exemplare von Freuds Werken bislang abgesetzt wurden, lasse sich kaum mehr prüfen, sagt er. Nur soviel: S. Fischer habe Lizenzen in mehr als 30 Länder verkauft (übrigens noch nicht nach China). Neuausgaben von Freud-Werken sind unter anderen bei Anaconda und Marix geplant.

Der Carl Hanser Verlag erlebt mit Ernst Toller dieses Jahr zum ersten Mal, wie es ist, einen Autor im Programm zu haben, dessen Werke gemeinfrei werden. Toller ist allerdings ein Sonderfall, zumindest sind alle Verlage vorsichtig: Lediglich Anaconda veröffentlicht demnächst einen Titel („Eine Jugend in Deutschland“) – für Leser (und Käufer) sind Tollers Werke wohl zu sperrig. „Leider ist es nicht gelungen, das anfängliche Publikumsinteresse für unsere kleine Werkausgabe auf passablem Niveau zu stabilisieren“, erzählt denn auch Hanser-Lektor Kristian Wachinger.

Der Verlag erwarb die Toller-Rechte in den 1970er Jahren, hat seinerseits die Werke lizenziert (etwa an den Hörverlag, Reclam und Rowohlt). „Eine Zeitlang haben wir uns auch um eine kritische Edition bemüht, um den Autor zu kanonisieren und im Bewusstsein zu halten“, so Wachinger – doch der Plan schlug fehl. „Die Finanzierung ist nicht zustande gekommen; immerhin haben wir die Werkausgabe entgegen jeder kaufmännischen Vernunft lange lieferbar gehalten.“

Was zu tun ist, damit die Gemeinfreiheit eines Autors, für den man über lange Zeit die Verwertungsrechte  pflegte, nicht zum Disaster wird? Genau wie viele seiner Kollegen in anderen Verlagen, kennt Wachinger nur eine Alternative: „Wo der Urheberrechtsschutz nicht mehr greift, wird ein Autor zum Klassiker, und es bedarf anderer Alleinstellungsmerkmale: zuverlässige Textedition, erhellende Kommentierung, brillante Übersetzung“, erklärt er; „dahinein fließt dann, was an Autorenhonorar nicht mehr fließen muss.“

Auf internationaler Ebene gilt die Regel in abgewandelter Form: Auch hier werden zwar die Grundwerke eines Autors 70 Jahre nach dessen Tot gemeinfrei, doch die Übersetzungen sind davon völlig ünberührt – da diese wiederum an die Lebensdaten des Übersetzers gebunden sind. Dass William Butler Yeats kaum Resonanz findet, dürfte also einen einfachen Grund haben: Ein Verlag müsste seine Werke neu übersetzen lassen (geschehen durch den JuKu Jugend-, Kunst- und Kulturforum Prignitz e.V.; William Butler Yeats: „ Letzte Gedichte“, 6 Euro).

 

Grenzüberschreiter zwischen 2010 und 2013

Autoren, deren Werke in den nächsten vier Jahren gemeinfrei werden (und ihre Verlage)  –  in einer Auswahl

2010

  • Sigmund Freud (bisher: S. Fischer)
  • Joseph Roth (bisher: Kiepenheuer & Witsch)
  • Ernst Toller (bisher: Carl Hanser)
  • William Butler Yeats (deutsche Verlage, bisher: Jung und Jung, Luchterhand, Suhrkamp)

➤ 2011


  • Walter Benjamin (Suhrkamp u.a.) 

  • Michael A. Bulgakow (Luchterhand u.a.)
  • 
F. Scott Fitzgerald (Diogenes u.a.)
  • Walter Hasenclever (Rowohlt u.a.)
  • Selma Lagerlöf (Oetinger u.a.)

➤ 2012


  • Oskar Loerke  (Wallstein)

  • Virginia Woolf (S. Fischer)


 ➤ 2013


  • Robert Musil (Rowohlt)
  • Carl Sternheim (Luchterhand)
  • Stefan Zweig (S. Fischer)