Geschwister-Scholl-Preis

"Wo waren wir damals?"

6. Juli 2015
von Andreas Trojan
Jürgen Dehmers ist als Kind an der Odenwaldschule missbraucht worden. Als er seine Geschichte öffentlich machte, wollte sie niemand hören. Für seinen Mut, das Unvorstellbare dennoch immer wieder auszusprechen, hat er am Montag in München den Geschwister-Scholl-Preis bekommen.

Der Geschwister-Scholl-Preis wird im Gedenken an die Geschwister Scholl und ihre Gruppe „Die weiße Rose“ verliehen, die Widerstand gegen die NS-Diktatur leistete. Schon in den Anfangsjahren der Auszeichnung gab es immer wieder Preisträger, die sich in ihrem Werk ganz anderen Themen gewidmet haben. So ist es auch in diesem Jahr. Jürgen Dehmers hat das Buch „Wie laut soll ich denn noch schreien? Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch“ (Rowohlt) geschrieben und damit die bundesweite Diskussion angefacht - als Betroffener.

Der Name Jürgen Dehmers ist ein Pseudonym. Dehmers heißt eigentlich Andreas Huckele und ist heute selbst Lehrer. "Die Geschwister Scholl haben durch ihren Mut ihr Leben verloren, ich habe durch das, was ich getan habe, mein Leben gewonnen", so der Autor am Ende seiner Dankesrede.

Oberbürgermeister Christian Ude stellte beim Festakt am Montagabend in München die Gretchenfrage: Sind Bücher, die aktuelle Missstände zum Thema machen, heute überhaupt noch preiswürdig –  in einer Zeit, in der die Medien jede Wendung, jeden einzelnen Aspekt eines Skandals, einer Affäre sofort aufgreifen und veröffentlichen? Ude und alle, die Dehmers Geschichte kennen, wissen, dass es mehr als ein Jahrzehnt gedauert hat, bis eben diese Öffentlichkeit die eklatanten Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule zur Kenntnis genommen hat.

Hätte Andreas Huckele nicht so einen langen Atem gehabt, wären die Vorfälle nach und nach unter dem Deckmantel des Schweigens in Vergessenheit geraten. Ude betonte, dass München auch in den eigenen städtischen Einrichtungen wachsam sein müsse, Kindesmissbrauch dort kein unbekanntes Problem sei. "Die Stadt muss sich diesen Vorfällen ohne Wenn und Aber stellen“, so Udes Bekenntnis. Dehmers Frage "Wie laut soll ich denn noch schreien?" hat offenbar Gehör gefunden.

Nicht nur Politik, Justiz, Polizei, sondern die gesamte Gesellschaft: Dass dieser Fall alle angeht - das machte Jörg Platiel, Vorsitzender im bayerischen Landesverband des Börsenvereins, bei der Preisverleihung in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität deutlich. Keiner dürfe einfach wegschauen. "Wo waren wir, die wir heute mit Ihnen feiern, damals?" Das fragte Laudator Tanjev Schultz, Redakteur bei der "Süddeutschen Zeitung", beklommen: "Wir waren mit Taubheit geschlagen."

Huckele dagegen zeigte Zivilcourage, recherchierte, deckte auf und schrieb, "ohne Rücksicht zu nehmen auf Autoritäten, anerkannte Institutionen und auf eingeschliffene gesellschaftliche Konventionen", wie Platiel sagte. Die Odenwaldschule nahm sich sozial schwacher Kinder an, aber auch die Prominenz aus Gesellschaft und Politik schickte ihren Nachwuchs in dieses Internat. Und wer wollte da schon öffentlich darauf gestoßen werden, dass dieser vielfach gelobte deutsche Reformhort in Wahrheit ein Ort des Verbrechens gewesen ist? Dies unter schwierigsten Bedingungen aufgezeigt zu haben, ist das Verdienst von Andreas Huckele - einem würdigen Nachfolger der Geschwister Scholl.

Der Geschwister-Scholl-Preis

  • Mit dem Geschwister-Scholl-Preis wird jährlich ein Buch ausgezeichnet, "das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben".
  • Der Preis wird seit 1980 vom bayerischen Landesverband des Börsenvereins gemeinsam mit der Landeshauptstadt München vergeben und ist mit 10.000 Euro dotiert.
  • Heute, am Dienstag, den 27. November, kommt der Preisträger 2012 zum Gespräch auf die Münchner Bücherschau (19.00 Uhr, mit Laudator Tanjev Schultz). Nähere Informationen finden Sie hier.