Gespräch

"Radikalismus des Alles oder Nichts"

17. Januar 2008
von Börsenblatt
Der Berliner Historiker und NS-Forscher Götz Aly versteht es, seine Zunft und die Öffentlichkeit mit Thesen quer gegen den Mainstream zu provozieren – so auch in seinem jüngsten Buch "Unser Kampf" (S. Fischer) über die 68er-Generation. Wolfgang Schneider sprach für boersenblatt.net mit dem Autor. Mehr zum "Mythos 1968" und weiteren Themen lesen Sie im aktuellen BÖRSENBLATT (3 / 2008), das wichtige Sachbuch-Novitäten des Frühjahrs vorstellt.
Herr Aly, schon zu Jahresbeginn sind die Zeitungen und Magazine voll mit 1968 – Beilagen, Bilderstrecken, Sonderseiten zum Jubiläum. Können Sie das eigentlich alles noch lesen? Aly: Nein. Warum nicht? Aly: Ich finde es langweilig. Weil da immer dieselbe Nostalgie rotiert? Aly: Ja, diese ewige Veteranensülze. Die Altachtundsechziger überhöhen die Ereignisse. Mir fehlt die Historisierung. Stattdessen verteidigen die Leute ihre Biografien gegen die gängig gewordene Kritik. Ihr Motto ähnelt dem einstiger DDR-ler: "Es war nicht alles schlecht.“ Der Ton ist ziemlich defensiv geworden. Es fällt auf, dass der politische Fanatismus eher weggeblendet wird. Marx und Mao werden zur Nebensache, wichtig waren die freie Liebe und die Popkultur. Aly: Der deutsche Furor, das Unbedingte und schließlich das Doktrinäre der 68er-"Bewegung“ rücken ganz in den Hintergrund. Es werden die schönen, weichen Aspekte der Revolte hervorgehoben, freie Sexualität und andere, neue Kommunikationsformen. All das waren zweifellos wichtige Dinge. In meiner Schulzeit war zum Beispiel in den Schulen die Prügelstrafe noch selbstverständlich. Aber meine Kampfgenossen von damals tun heute gerne so, als seien sie in den Jahren der Revolte als bessere Heilsarmee unterwegs gewesen, immer im Einsatz für die Schwachen. Und sie tun so, als hätten sie die Aufklärung über die NS-Vergangenheit ins Werk gesetzt. Davon kann keine Rede sein. Nein? Wieso nicht? Aly: In den Jahren 1967 und 1968 fanden die meisten NS-Prozesse in der Bundesrepublik statt, vielfach verhängten die Schwurgerichte lebenslange Haftstrafen. Die Regierung Kiesinger / Brandt verlängerte noch einmal die Verjährungsfrist für Morddelikte und bekundete damit den Willen, die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen fortzusetzen. Die 68er haben das damals alles verdrängt. Wenn Sie heute einen ehemaligen 68er fragen, an welche NS-Prozesse von ’68 er sich erinnert, dann fällt dem nichts ein. Damals wurden Prozesse wegen der Massenmorde in Treblinka, Sobibor und Belzec geführt, Prozesse gegen KZ-Personal und SD-Mörder – für die Linksradikalen von damals spielte das keine Rolle, in ihren zahllosen Postillen und Flugschriften fand das keinen Niederschlag. Stattdessen suchten die aufbegehrenden Studenten die Völkermörder im Ausland, vorzugsweise in den USA, schließlich sogar in Israel – überall, nur nicht bei sich zu Hause. Der Faschist wandelte sich vom Deutschen mit Namen und Adresse zur weltweiten Erscheinung. Diese widerliche Gestalt wurde nach den nun gängigen Faschismus-"Theorien“ in den Agenturen des Imperialismus und des Kapitals ausgebrütet, stammte nicht etwa aus kerndeutschen Familien aller sozialer Schichten. Kurz gesagt: Die linken Studenten wichen vor der Last der Vergangenheit aus, sie waren damit überfordert und flüchteten in den Internationalismus. Sie werden mir keinen Dutschke-Text, keinen Artikel in Enzensbergers "Kursbüchern" jener Jahre zeigen können, in dem die Last der NS-Vergangenheit thematisiert wird. Diese Verdrängung macht es dann aber möglich, dass die Studentenbewegung – so die These Ihres Buches – vielfach unbewusst bei der NS-Generation anknüpfen konnte. Was sind die Gemeinsamkeiten? Aly: Der merkwürdige politische Radikalismus des Alles oder Nichts, der Wille, den neuen Menschen zu schaffen und die ganze Welt neu zu erfinden, schließlich das Antibürgerliche und die Versuche, Elite und Volk zu versöhnen – in all diesen Punkten bestehen Ähnlichkeiten zwischen den 33er-Vätern und ihren 68er-Kindern. Man wollte Tabula rasa machen. Es war selbstverständlich, dass bei der anstehenden Revolution Zehntausende über die Klinge springen würden. Aly: 1969 schloss man Wetten auf die Revolution ab – ob sie nun in einem oder in drei Jahren stattfinden würde. Und man unterhielt sich, was mit denen geschehen sollte, die sich nicht an die neuen revolutionären Verhältnisse anpassen würden. Das finden Sie auch in den Schriften und Interviews Rudi Dutschkes alles sehr deutlich, diese utopischen und damit auch gewalttätigen Phantasien der Studentenbewegung, mit denen sie anschloss an die totalitären Traditionen des 20. Jahrhunderts. Die Gewalt war also keine spätere Fehlentwicklung? Aly: Das war von Anfang an angelegt in der Idee des außerparlamentarischen Widerstands. Da ging es sehr bald um Machtproben mit der Polizei und um Bomben, lange vor der RAF. "Wenn wir uns nicht wehren, dann machen wir uns zum Juden“ – das sagte Dutschke immer wieder. Heute eine unvorstellbare Formulierung. Inwieweit waren Sie selbst 1968 involviert? Aly: Ich war vom Dezember 1968 an in Berlin richtig mit dabei; vorher hatte ich in München die Journalistenschule besucht. Im Januar 1969 habe ich eine Nacht in Polizeihaft verbracht, nachdem ich auf der Grünen Woche gegen das faschistische Griechenland demonstriert hatte. Wegen einer Gewaltaktion im Sommer 1971 bin ich rechtskräftig verurteilt worden. Gibt es etwas, das Ihnen heute peinlich ist? Aly: Unsere Mao-Leidenschaft. Wir haben einen Massenmörder verehrt. Wir schwärmten für die chinesische Kulturrevolution und wollten nicht wissen, dass sie mit staatlich gesteuerter Gewalt verbunden war: Drei Millionen Menschen wurden ermordet, 100 Millionen deportiert. Ich trug damals einen goldenen Mao-Knopf am Revers. Und als 1972 die kambodschanische Revolution ausbrach, fanden wir auch diese ganz toll. Die Revolution, für die wir so warme Worte fanden, wurde von Pol Pot geleitet. Auch das wird heute meist verdrängt. Ich bin der Frage nachgegangen, was wir über Maos Verbrechen hätten wissen können. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Wir hätten nämlich alles wissen können. Der Mann, der das mit großer wissenschaftlicher Gründlichkeit dokumentiert hatte, hieß Jürgen Domes und saß mitten in der Hochburg der Studentenrevolte, im Otto-Suhr-Institut der Freien Universität. Wir haben ihn einfach für rechtsradikal erklärt. Ich habe seine damaligen Texte über die Zustände in China jetzt – nach vierzig Jahren – zum ersten Mal gelesen: Es handelt sich um nüchterne, von jedem schäumenden Antikommunismus freie, sehr sachliche Analysen, wie ich sie heute für vorbildlich halten würde. Was unterschied die deutsche Situation 1968 von den internationalen Protesten? Aly: Als typisch deutsch erscheint mir die lange Dauer, das Verbiesterte und hohe Maß an Gewalt. All das korrespondiert mit der geringen Kompromiss- und Integrationsfähigkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Die Vereinigten Staaten und Frankreich wurden ebenfalls von heftigen Jugendrevolten erschüttert, doch waren die Unruhen bereits nach wenigen Monaten überwunden. Sowohl die Revoltierenden als auch die Vertreter der herrschenden "alten“ Gesellschaft verloren den Gesprächsfaden niemals, fanden verhältnismäßig rasch Wege des Ausgleichs und der wechselseitig akzeptierten Reform. So gelangten die jungen Leute dort nach relativ kurzer Zeit wieder in normale Bahnen. In Deutschland dagegen blieben die Kräfte der Vermittlung ungemein schwach. Darin sehe ich eine unmittelbare Folge des Nationalsozialismus und der gebrochenen demokratischen Tradition. Einige Verlage legen jetzt die Kampfschriften von 1968 noch einmal auf. Was sind für Sie die heute noch wichtigen Texte der Epoche? Aly: Ich habe während der Vorarbeiten zu meinem neuen Buch selbst danach gesucht: im "Kursbuch" zwischen 1967 und 1973, in den "Rowohlt-Aktuell“-Bänden der Zeit. Ich fragte mich, welche Texte könnte ich heute beispielsweise meinen Kindern in die Hand drücken und sagen: Lies das mal, das lohnt sich, das ist grundlegend. Es ist ernüchternd: Ich fand nichts. Alle diese Texte wirken völlig tot und uninteressant. Da finden Sie nicht einen einzigen vernünftigen Artikel, den Sie heute noch mit Gewinn lesen könnten. Aber was ist denn nun das Bleibende, Bedeutende am Epochenmarkstein 1968? Aly: Trotz allem bewirkte die gesellschaftliche Krise von 1968 die zweite Konstituierung der Bundesrepublik. Im "Dritten Reich“ hatte sich binnen kurzer Zeit eine unglaublich starke negative Energie entfaltet: 18 Millionen deutsche Männer brachen auf, um Europa zu verwüsten. Hinterher brauchte dieses Land dringend Ruhe, es musste in ein künstliches Koma versetzt werden. Dass eine Figur wie Adenauer Kanzler wurde und man sich auf die konservativen Werte der Kaiserzeit zurück besann, das war anachronistisch und notwendig zugleich. Doch bildete der Heilschlaf für die Mehrheit der Deutschen die einzige Möglichkeit, um von dem vorangegangenen Gewaltexzess zu genesen. Dass dieser Schlaf nach zwanzig Jahren – genau nach der Zeit, die eine Generation zum Aufwachsen braucht – abrupt gestört wurde, ließ sich nicht vermeiden. Die unruhigen Jahre der Revolte gehörten zu einem Wachstums- und Häutungsschub der alten Bundesrepublik. Die Tatsache, dass die Studenten dabei am wildesten agierten, auch aufgrund ihrer privilegierten sozialen Situation, ist jedoch kein Verdienst. Vielmehr zeigten sich am wilden, ungebärdigen Betragen der Studenten die Krisensymptome nur besonders deutlich. Bewundernswerter sind für mich heute die Protagonisten jener Zwischen- oder Flakhelfergeneration, die vermittelnd tätig wurden, unter anderem Kurt Sontheimer, Jürgen Habermas, Niklas Luhmann, die Brüder Vogel, auch der junge Joseph Ratzinger. Aber wir 68er setzten damals alles daran, die Vertreter dieser Generation in ihrem Bemühen um gesellschaftliche Erneuerung scheitern zu lassen. Wir denunzierten sie als "Scheiß-Liberale“, die wegen ihrer Liberalität besonders bekämpfenswert seien. Gab es beim Schreiben Ihres Buches einen Konflikt zwischen der Rolle des Historikers und der des involvierten Zeitzeugen? Aly: Ja, klar. Diesen Konflikt kann ich nicht lösen. Und ich muss sagen, es ist leichter, über den Unsinn und die Untaten der anderen zu schreiben als über die eigenen Irrtümer und Verfehlungen. Einen roten Faden für das fand ich erst, als ich im Bundesarchiv begann, die einschlägigen Akten der Bundesregierung zu lesen. Da gewann ich plötzlich einen neuen Blick auf ’68 und entwickelte neue Fragen. Plötzlich wollte ich wissen, wie unsere damaligen Gegner einschließlich unserer jüdischen Professoren, die nach Deutschland zurückgekehrt waren, unsere komische Bewegung gesehen haben. Haben Sie Ihr Buch aufs Jubiläum hin geschrieben oder tragen Sie es schon lange mit sich herum? Aly: Ich habe es sehr lange mit mir herumgetragen. Seit ich vor 25 Jahren begann, mich hauptberuflich mit der NS-Geschichte zu beschäftigen, war mir immer klar, dass diese Jungnazis der dreißiger Jahre uns sehr ähnlich waren. Letztlich hat mich dann auch die Frage "Wie soll ich 1968 meinen Kindern erklären?“ zu dieser Beschäftigung geführt. Herr Aly, vielen Dank für dieses Gespräch.