Gutachten zum Vergaberecht beim Schulbuch

"Jeder Schulträger kann die Aufträge auch dezentral vergeben lassen"

8. November 2013
von Börsenblatt
Viele Kommunen wickeln die Schulbuchaufträge für ihre Schulen gebündelt ab – und müssen sie damit europaweit ausschreiben. Als Begründung wird gern das strenge Vergaberecht angeführt. Ein neues Gutachten, das die Kanzlei Allen & Overy LLP für den Börsenverein erstellt hat, zeigt jedoch, dass eine dezentrale Auftragsvergabe durch die einzelnen Schulen sehr wohl möglich ist – zugunsten des regionalen Buchhandels. Ein Interview mit Rechtsanwalt und Gutachter Wiland Tresselt.

Ganz konkret bezieht sich das Gutachten auf die Stadt Mülheim an der Ruhr, wo sich Buchhändlerin Ursula Hilberath (Hilberath & Lange) seit langem für die dezentrale Schulbuchvergabe stark macht. Politische Unterstützung hat sie, doch die Verwaltung verweist auf vergaberechtliche Hürden. Ähnliche Fälle gebe es landauf, landab, so Börsenvereinsjustiziar Christian Sprang. Das Gutachten (hier abrufbar) erleichtere nun die Argumentation gegenüber den Kommunen.

Im Interview mit boersenblatt.net erläutert Gutachter Wiland Tresselt, warum das Vergaberecht den Schulträgern durchaus Spielraum lässt.

Seit der Verpflichtung, Aufträge ab einer bestimmten Größenordnung europaweit auszuschreiben, ist das Schulbuchgeschäft für den Buchhandel komplexer und schwieriger geworden. Dürfen Kommunen den Einkauf auch den Schulen überlassen - die Aufträge also splitten und dezentral vergeben lassen?

Tresselt: Ein klares Ja! Wir haben die Frage in unserem Gutachten eingehend geprüft, bezogen auf einen konkreten Fall in Nordrhein-Westfalen. Dabei kommen wir zu dem Ergebnis, dass es keinerlei rechtliche Zwänge für die Kommunen, also für die Träger der Schulen gibt, eine einzige große Ausschreibung für alle Schulen und Schulbücher durchzuführen. Das Vergaberecht ist in diesem Punkt sehr praxisorientiert und räumt Schulen wie Schulträgern durchaus vergaberechtliche Freiheiten ein – auch wenn es normalerweise dafür berüchtigt ist, den Kommunen ein sehr enges, formales Korsett anzulegen. 

Warum handeln viele Kommunen dann anders? Aus Unwissenheit?

Tresselt: Die Kommunen verdienen eine gewisse Nachsicht, eben weil das Vergaberecht in der Tat sehr strenge Vorgaben macht. Viele Schulträger haben schlicht und einfach Sorge, ihre Ausschreibungspflichten zu verletzen – wodurch die gesamte Auftragsvergabe im Nachhinein für unwirksam erklärt werden könnte. Was das im konkreten Fall der Schulbuchbeschaffung für Schüler und Schulen bedeuten würde, kann sich jeder leicht ausmalen.

Die Kommunen sind Rechtsträger und Geldgeber – die Schulen dagegen nicht. Warum dürfen die Schulen die Aufträge dann trotzdem in Eigenregie abwickeln?

Tresselt: Öffentliche Auftraggeber können keineswegs nur Gebietskörperschaften wie Kommunen sein – sondern auch die Sondervermögen von Gebietskörperschaften, sprich: Verwaltungsstellen, die haushaltsrechtlich und organisatorisch selbstständig sind. Das gilt folglich auch für Schulen, wird aber gern übersehen. Viel wichtiger ist jedoch ein anderer Punkt: Wo genau fällt der Beschaffungsbedarf an? Wie ist der öffentliche Auftrag zu definieren? Die Antwort ist eindeutig: Die Schulen haben einen eigenständigen Beschaffungsbedarf, der sich aufgrund ihrer Organisationsautonomie nicht über einen Kamm scheren lässt, sondern sehr unterschiedliche Bedürfnisse erfüllt. Dass das Vergaberecht hier Differenzierungen zulässt, zeigt ein Beispiel auf höherer Ebene: Wenn der Bund für all seine Ministerien den Fuhrpark betreuen und den IT-Bedarf deckte müsste, würden die Ministerien vermutlich Sturm laufen.

Warum müssen die verschiedenen Einzelaufträge am Ende nicht zu einem Großauftrag addiert werden?

Tresselt: Weil zwischen den Schulbuch-Aufträgen der einzelnen Schulen kein funktionaler Zusammenhang besteht. Das beste Gegenbeispiel ist ein Hausbau: Im ersten Bauabschnitt wird die Baugrube ausgehoben, dann wird der Rohbau hochgezogen, zuletzt kommt die Innenausstattung. Das eine macht ohne das andere keinen Sinn. Deshalb müssen solche Aufträge nach den Grundsätzen des Vergaberechts addiert werden. Beim Schulbuch jedoch liegt eben gerade kein innerer Zusammenhang vor. Im Gegenteil: Jede Schule hat aufgrund ihrer Unterrichtsplanung, ihrer Schülerzahlen ganz individuelle Bedürfnisse. Überlässt die Stadt den Schulen im Rahmen ihrer Eigenbudgetierung die Schulbuchbeschaffung, sind weder die Stadt noch die Schulen vergaberechtlich dazu verpflichtet, den Wert der Aufträge für alle Schulen zusammenzurechnen.

Würden Sie die Sache vergaberechtlich anders einschätzen, wenn alle Schulen mit denselben Büchern arbeiten würden?

Tresselt: Ja, das wäre in der Tat wohl anders zu gewichten. Aber wie gesagt: Jede Schule hat ihren eigenen Bedarf.

Die Stadt Mülheim an der Ruhr, die den Anlass für Ihr Gutachten lieferte, vergibt ihre Aufträge trotzdem zentral und beruft sich dabei unter anderem auf einen Beschluss der Vergabekammer Arnsberg von 2003. Worum ging es in dem Beschluss - und warum spielt er hier aus Ihrer Sicht keine Rolle?

Tresselt: Die Kommune, um die es in dem damaligen Rechtsstreit ging, hatte ohne weitere Prüfung von einer Ausschreibung abgesehen. Das geht natürlich nicht: Die Kommunen müssen ihre Pflichten, die sich aus dem Vergaberecht ergeben, eingehend analysieren und gewissermaßen die Gegenprobe machen, bevor sie sich für oder gegen einen Ausschreibungsweg entscheiden. Hinzu kommt, dass das Vergaberecht zu den Rechtsgebieten gehört, die sich am schnellsten weiterentwickeln und darüber hinaus noch von vielen Einzelentscheidungen durchdrungen werden. Die Arnsberger Entscheidung stammt aus dem Jahr 2003 und ist damit eigentlich veraltet. Mittlerweile liegt nämlich eine Entscheidung der EU-Kommission vor. Sie hat das Vergabe-Thema auch beim Schulbuch untersucht und bestätigt, dass hier keine Verpflichtung zu einer zentralen Ausschreibung besteht. Was sich im Übrigen mit der aktuellen Rechtsprechung deckt.

Sie schreiben in Ihrem Gutachten, dass die dezentrale Vergabe sogar im Schulgesetz von Nordrhein-Westfalen angelegt ist. Inwiefern?

Tresselt: In Nordrhein-Westfalen gibt es in der Tat eine Besonderheit, die ganz deutlich für eine dezentrale Beschaffung spricht. Im Schulgesetz ist nämlich ausdrücklich festgehalten, dass die Schulträger ihre Schulen dazu ermächtigen können, eigenständig Aufträge zu vergeben. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wenn ein Schulträger dies nicht tut, läuft damit ein gesetzgeberischer Wille ins Leere.

Gilt das, was Sie für NRW festgestellt haben, auch für andere Bundesländer? Oder muss jeder Buchhändler, der seine Kommune zur dezentralen Vergabe ermuntern will, die Rechtslage vor Ort prüfen?

Tresselt: Es gibt auch andere Bundesländer, die ähnliche Passagen in ihr Schulgesetz aufgenommen haben – allerdings gilt das nicht flächendeckend. Für die dezentrale Beschaffung an sich ist das allerdings auch gar nicht entscheidend. Denn die richtet sich nach Vergaberecht und ist, wie oben erläutert, bundesweit zulässig. Letztlich also kommt es vor allem auf den politischen Willen der Kommune, des Schulträgers an, den Schulen diese Eigenständigkeit zu lassen. Und damit den Buchhandel vor Ort durch eine regionale Auftragsvergabe zu unterstützen.