Hörbuch-Novitäten

Klangwelten voller Extreme

16. Februar 2017
von Börsenblatt
Mit H. G. Wells, Jane Austen, Dostojewski und Kafka glänzen in dieser Saison Neuaufnahmen bewährter Klassiker. Hörperlen finden sich aber auch in der Gegenwartsliteratur.

H. G. Wells' "Der Krieg der Welten" ist eines der wirkungsmächtigsten Werke der neueren Literaturgeschichte. Auf seinen Spuren haben Tausende von Romanen und Filmen außerirdische Invasoren auf die Erde losgelassen. Umso erstaunlicher, dass das Pionierwerk der Science-Fiction aus dem Jahr 1898 die von ihm selbst ausgelöste Einflusslawine unbeschadet überstanden hat. Staunend lauscht man den Beschreibungen der riesigen dreibeinigen Mars-Maschinen, die durch die idyllischen Landschaften Südenglands schreiten und mit ihrem "Hitzestrahl" alles nieder­machen, was sich in ihren Weg stellt.

Der Mars ist ein erschöpfter, abkühlender Planet im "letzten Stadium der Bewohnbarkeit". Wegen dieser ökologischen Krise wollen die Marsianer die Menschen als Nutztiere halten. Als der Roman erschien, erreichte das britische Imperium seine größte Machtentfaltung. Wells dreht die Perspektive um und lässt die Engländer zu Eingeborenen werden, die von einer überlegenen Zivilisation ­kolonisiert werden. Dass dieser Roman großartiger Hörbuchstoff ist, zeigen nicht nur die vielen Hörspiel-Adaptionen (legendär die Bearbeitung von Orson Welles) –, sondern das beweist vor allem der ungekürzte Originaltext selbst, hier in der Neuübersetzung von Lutz-W. Wolff (DAV, 6 CDs, 19,99 Euro). Gebannt folgt man der involvierten, aber keineswegs schreckensbleichen Lesung von Andreas Fröhlich. Faszinierend die Pointe, dass die Invasoren, gegen die alle menschlichen Waffenarsenale nichts auszurichten vermögen, am Ende von Viren und Bakterien vernichtet werden.

Der Prototyp des modernen Kriminalromans ist "Verbrechen und Strafe". Zahllose Ermittler wandeln in den Spuren des listigen Porfirij Petrowitsch – ein hypochondrischer Kettenraucher in schiefen Schuhen, der mit psychologischer Raffinesse den panischen Mörder immer weiter in die Enge treibt. Rodion Raskolnikow heißt er, der vom Leben exmatrikulierte Student mit der Axt im Ärmel, der eine menschliche "Laus" – die alte Pfandleiherin – aus philosophischen Gründen abschlachtet. Verstörung, zerrüttete Nerven, Fieberschauer, Zusammenbrüche: Gerade weil Exaltiertheit und psychischer Extremismus bei Dostojewski erwartbar sind, erstaunt die Lesart von Sylvester Groth zunächst. Ungut ruhig spricht er die Verzweiflungsmenschen und setzt so einen effektvollen Kontrapunkt zur hys­terischen Atmosphäre des Romans. Eine große und ungewöhnliche Lesung (DAV, 3 MP3-CDs, 49,99 Euro).

Mindestens so melodramatisch wie Dostojewski ist Hanya Yanagiharas Roman "Ein wenig Leben". Ist es ein Meis­terwerk, eine Seifenoper oder ein überschätzter Elendsporno? Selten jedenfalls wurde so emphatisch von Freundschaft erzählt, selten aber auch so obsessiv und repetitiv eine Geschichte jahrelangen ­sexuellen Missbrauchs inszeniert. Gemischte Charaktere? Vergiss es. Hier sind die Figuren entweder edel und gut oder fies und böse.

Im Zentrum steht der rätselhafte Jude St. Francis, ein New Yorker Rechtsanwalt und wahrer Schmerzensmann. Welche seelischen Wunden verbergen sich hinter seinen autoaggressiven Attacken? Erst als der Roman in Judes Kindheit zurückblendet, wird sein Martyrium erkennbar. Der Vorleser Torben Kessler meistert diese literarische Partitur der Extreme mit Bravour. Die Melodien der Freundschaft beherrscht er ebenso wie die Lakonie des Schreckens (Hörbuch Hamburg, 4 MP3-CDs, 29 Euro).

Und noch eine Leidensgeschichte: Thomas Melles autobiografischer Bericht über die Abstürze und manischen Schübe seiner bipolaren Jahre. Für viele war "Die Welt im Rücken" der eigentliche Buchpreis-Favorit des vergangenen Jahres. Es ist eine Konfession, die vom Autor selbst vorgetragen werden muss. Melle verzichtet auf Dramatisierung und expressive Betonungen, seine Stimme, ein erstaunlich gefestigter Bassbariton, trägt bei zum Eindruck einer beinahe klinischen Sachlichkeit (Tacheles, 7 CDs, 24,99 Euro).

Noch tiefer in die Zone des Schmerzes führt Han Kangs Roman "Die Vegetarierin". Weil sie einen merkwürdigen Traum hatte, lehnt die Hauptfigur Yeong Hye den Verzehr von Fleisch ab. Vegetarismus, hierzulande eine Frage des Lifestyles oder der Ethik des Tierwohls, erscheint in Kangs Korea als kaum überbietbare Provokation. Fassungslos stehen der Ehemann und die Verwandten vor der Verweigerung. Ein stummer Schrei gegen die Rituale der gesellschaftlichen Anpassung hallt durch diesen Roman, dessen Subversion schließlich ins Wahnhafte führt. Die Lesung gewinnt zusätzlichen Reiz dadurch, dass die so verschieden angelegten Stimmen und Erzähl­perspektiven auf mehrere Schauspieler verteilt werden. Es ist ein Hörbuch der starken Bilder und Symbole, mit sur­realen Passagen und kafkaesken Zuspitzungen (Argon, 5 CDs, 18,99 Euro).

Kafka? Vor sieben Jahren erschien Klaus Buhlerts "Process"-Hörspiel – eine Inszenierung von kompromisslosem Minimalismus und höchster textkritischer Präzision, aber doch auch merkwürdig steril. Wer nun Buhlerts Bearbeitung des Romans "Das Schloss" hört, nimmt erfreut eine Änderung der Konzeption wahr (Der Hörverlag, 12 CDs, 49,99 Euro). Die Geschichte des vermeintlichen Landvermessers K., der in eine abweisende winterliche Dorfgemeinschaft eindringt und zum Gegenspieler eines un­überschaubaren Machtapparats wird, dessen Anerkennung er zugleich sucht, setzt Buhlert ungewohnt atmosphärisch um, mit musikalischen Skizzen, Geräuschen, elektronischen Klängen – und einem Ensemble von acht hervor­ragenden Stimmen, darunter Corinna Harfouch und Wolfram Berger. Auch wer den Roman bereits kennt, wird dank dieses Hörspiels von dezenter Opulenz viele Details neu entdecken.

 Ein Klassiker der Nachkriegsliteratur ist Jurek ­Beckers "Jakob, der Lügner", die Geschichte des Juden Jakob Heym, der seinen Mithäftlingen im Ghetto die Hoffnung zurückgibt, indem er behauptet, ein Radio zu besitzen und von der nahen Befreiung zu wissen. In der Lesung von August Diehl (Speak Low, 7 CDs, 29,80 Euro) hört sich der Roman mit seinem unprätentiösen Ton in manchen Passagen so an, als wäre er erst kürzlich von einem Autor wie Wolfgang Herrndorf geschrieben worden. Dieser Eindruck hat viel mit August Diehl zu tun, der auch Herrndorfs Werke als Hörbuch eingelesen hat. Seine Stimme klingt unsentimental und schnörkellos, kann aber zugleich beißen­den Weltschmerz zum Ausdruck bringen. Hier gelingt es Diehl, Jurek Beckers Schelmen­geschichte mit der Erfahrungsschwere des Ghetto-Grauens zu verbinden.

Und nicht zu vergessen: 2017 ist Jane-Austen-Jahr. Subtiles Geschlechter­theater und Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande – rechtzeitig zum 200. Todestag der Schriftstellerin hat der Argon Verlag die ihr gewidmete Hörbuchreihe mit den sensitiven Lesungen von Eva Mattes abgeschlossen, die den feinen ironischen Unterton pflegt. Zuletzt ist "Über­redung" (Argon, 8 CDs, 34,95 Euro) erschienen, Austens später, herbstlich gestimmter Gesellschaftsroman. Einmal mehr kommt einem die entrückte Welt des englischen Landadels um 1800 durch die ruhige, psychologisch eindringliche Lesart nahe.