Impressionen einer Reise

Argentinische Rhythmen

6. Mai 2010
von Börsenblatt
Eine Woche Buenos Aires. Und die Begegnung mit einem lachenden Verleger, der im Gefängnis saß, einem Antiquar, der 120.000 Euro für ein Borges-Original haben will, einem Autor, der ein Gläubiger ist, und mit einem früheren Schweizer Manager, der noch einmal ganz von vorn angefangen hat.
Das teuerste Werk liegt in einem schwarzen Karton, jedes Blatt doppelt in Folie verpackt. Es ist die handschriftliche Urfassung der "Bibliothek von Babel", Borges hat das erste Blatt mit LA BIBLIOTECA TOTAL überschrieben. 120.000 Euro kosten die eng, klein und äußerst akkurat beschriebenen Blätter, sagt der Antiquar Victor Aizenman. Für 100.000 Euro bar auf die Hand, jetzt sofort, würde er auch verkaufen. Das Borges-Manuskript ist sein wertvollster Besitz. Eine deutsche Erstausgabe von Musils »Mann ohne Eigenschaften« zeigt er seinen Besuchern aus Frankfurt noch, die ist wesentlich preiswerter. Aizenmans Schätze lagern im Erdgeschoss eines gewöhnlichen Wohnhauses in der Mitte von Buenos Aires. Man muss angemeldet sein, um bei ihm Einlass zu finden, zufällig wird der Flaneur die kostbare Sammlung kaum entdecken.

Die Bücher, die es in den zahlreichen Geschäften und an Kiosken von Buenos Aires zu kaufen gibt, sind preiswerter als Aizenmans wertvolle Bände.  60 Pesos kostet ein Buch im Durchschnitt, wenig ist dies bei einem monatlichen Verdienst von rund 2000 Pesos jedoch nicht. Besonders auf der zentralen Avenida Corrientes reiht sich ein Buchgeschäft an das nächste. Unübertroffen allerdings ist El Ateneo im vornehmen Stadtteil Recoleta. Den Büchern gehören hier Logenplätze, denn der Laden residiert in einem ehemaligen Theater. Keine Off-Bühne, sondern ein altes Prachttheater, mit teils verblichener, großflächiger Deckenmalerei, viel Gold, Schnörkel und Verzierungen. Der Glanz indes, vielleicht ist dies das Schönste, lenkt nicht von den Büchern ab. So sucht sich der Gast zum Beispiel einen Ledersessel in einer Loge, hört im Hintergrund leise Chopin und liest in Lange-Müller, Bolagno oder Auster. Der Londoner „Guardian“ hat den prachtvollen Büchertempel El Ateneo, dessen Signum nicht zufällig eine Akropolis ist, zur zweitschönsten Buchhandlung der Welt gekürt (nach Boekhandel Selexyz Dominicanen in Maastricht). Und es ist überdies das größte Buchsortiment in ganz Südamerika.

Weit zahlreicher als in die Geschäfte zieht es Leser und Käufer von Ende April bis Anfang Mai auf die Feria del Libro de Buenos Aires, einer Publikumsmesse mit Buchverkauf, die an manchen Tagen bis nach Mitternacht geöffnet hat. Gleich neben dem deutschen Gemeinschaftsstand kann der Messebesucher den wohl berühmtesten  argentinischen Verleger treffen: Daniel Divinsky. Der Mann war wegen eines deutschen Kinderbuchs, das er auf Spanisch verlegt hat, im Gefängnis, danach in der Emigration in Venezuela – beides während der Militärdiktatur in Argentinien. Und er ist heute wie damals Verleger. Sein Name ist Legende in der Buchwelt von Buenos Aires. Sein Verlag, De la Flor, 1966 gegründet anstelle einer Buchhandlung, weil er für einen Laden nicht genug Geld hatte, ist einer der ältesten verbliebenen unabhängigen Verlage im Land. 80 Prozent des argentinischen Buchmarkts werden heute von ausländischen Konzernen, wie Planeta oder Mondadori, beherrscht. De la Flor, der Verlag mit dem Signet der Blume, hat die Diktatur überstanden, Divinsky dirigierte die Geschäfte von Venezuela aus übers Telefon, und diverse Wirtschaftskrisen. Über Übernahmeangebote durch spanische Verlagshäuser hat Divinsky stets nur gelacht. „Warum sollte ich verkaufen?“ Seine Comcis, darunter die international renommierte „Mafalda“-Reihe, verkaufen sich in Auflagen von teilweise über 100.000 Exemplaren und liegen damit weit über dem Durchschnitt: häufig ist ein Verlag schon zufrieden, wenn er 2.000 Exemplaren eines Titels veräußern kann.

 

Anders  als Divinsky ist der Schriftsteller Alan Pauls keiner, der den Messetrubel liebt: „Was soll ich da?“, fragt er. Er sehnt sich nach der Ruhe seiner Arbeitswohnung. Dort hat Pauls, der beim spanischen Vorzeigeverlag Anagrama unter Vertrag steht, fünf Jahre lang an „Die Vergangenheit“ geschrieben. Es ist ein Liebesroman – über obsessives Verlangen, Erinnerung und Vergessen. Ein außergewöhnliches Buch. „Jede wirkliche Liebesgeschichte ist radikal und jede Passion hat einen Kern von Delirium, Wahnsinn und Krankheit“, sagt der Autor - der sich selbst als  einen "modernen Gläubiger der Liebe" sieht. Klett-Cotta hat den Titel auf Deutsch herausgebracht, jetzt folgt mit „Die Geschichte der Tränen“ der erste Band einer Trilogie über die 70er Jahre, die für Pauls prägend waren. Früher hat er versucht, in Cafés zu schreiben. „Ich wollte es machen wie Ernest.“ Es ging nicht: „Ich brauche Privatheit.“. Pauls gilt manchen als schwierig, zurückhaltend – nichts davon ist im Café Saint Moritz zu bemerken. An der Eingangstür ist er fast mit einem großgewachsenen, sehr schlanken Mann mit langen grauen Haaren zusammengestoßen. „Kennen Sie den?“, fragt er. „Das ist Menotti.“ Natürlich, das ist der Trainer der argentinischen Weltmeistermannschaft von 1978, der Philosoph unter den Fußballern, der wunderbarerweise heute noch so aussieht wie vor 30 Jahren.  Als César Luis Menotti später aufreizend lässig davongeht, lacht Pauls: „Er ist wie damals, selbst als er jubelte hatte er diesen Stil.“

Die argentinische Wirtschaftskrise 2001 haben viele Argentinier teuer bezahlt, Bankguthaben wurden über Nacht wertlos. Doch der Zusammenbruch war paradoxerweise auch Anschub. Weil das Geld fehlte, um Bücher aus Spanien zu importieren, entstanden seit 2001 immer neue argentinische Verlage, vornehmlich in Buenos Aires. Für den Schweizer Georg Engeli liefert Argentinien ein Beispiel dafür, wie sich Probleme kreativ bewältigen lassen. Engeli sagt von sich selbst, er habe einmal hoch oben gelebt. Er war in der Schweiz das, was man einen Entscheider nennt. Dann hat er die Frau seines Lebens getroffen, ist zu ihr, der argentinischen Autorin, nach Buenos Aires gezogen. Seitdem ist er in der Kulturszene unterwegs und schreibt selbst Bücher. Und er übersetzt das, was junge, sehr junge Verleger und Autoren Gästen aus Deutschland in einer kleinen Buchhandlung, ihrer Buchhandlung, im vielleicht lebendigsten Stadtteil San Telmo erzählen: Dass es neben der offiziellen Buchmesse auch eine andere, alternative Messe in Buenos Aires gibt, die FLIA (Feria del Libre Independiente). Zu besichtigen ist das „alternatives Konzept zur zunehmenden Kommerzialisierung der Kulturwirtschaft“ am 1. und 2. Mai. Die Bücher auf einfachen Holztischen, dazwischen bedruckte T-Shirts und viele sehr entspannte „Aussteller“ – das Ganze wirkt vor einem der schmutzigen Betontürme der Universität ein bisschen wie Jahrmarkt und alternatives Happening in einem. Man kann es auch „alternatives Konzept“ nennen. Engeli sagt: „Sie stehen vor der Alternative Arbeitslosigkeit oder die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.“

Solcher Dualismus mag übertrieben sein. Tatsächlich aber ist Buenos Aires eine Stadt, in der Armut und Konflikte nicht verborgen bleiben, vor allem aber eine vibrierende Metropole voller Ideen und Energie.