Interview mit EU-Kommissarin Androulla Vassiliou

"Jeden Tag 15 Minuten gemeinsam lesen"

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Was kann die Politik dagegen tun, wenn in der EU jeder fünfte 15-Jährige sowie 73 Millionen Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben können? Im Vorfeld der Expertenempfehlungen, die den EU-Bildungsministern am 4. Oktober in Zypern zur Lesekompetenzförderung vorgestellt wird, hat boersenblatt.net mit Androulla Vassiliou gesprochen, der EU-Kommissarin für Bildung, Kultur, Mehrsprachigkeit und Jugend.

Wenn es um Alphabetisierung geht, denken wir in Deutschland häufig an Entwicklungsländer …
… was an der Wirklichkeit vorbeigeht. Da blenden wir aus, dass in der Europäischen Union jeder fünfte Jugendliche im Alter von 15 Jahren sowie rund 73 Millionen Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben können. Mit diesem Befund kann und will ich mich nicht abfinden. Wir müssen es schaffen, dass mehr Kinder zu ihrem eigenen Vergnügen lesen, also nicht nur in der Schule, sondern überall im Alltag, zu Hause, in der S-Bahn, im Park oder im Café, egal ob aus Büchern, Zeitungen oder auf Tablets. Das Lesen muss wieder ein anerkannter Wert in unserer Gesellschaft sein. Derzeit verfügen 20 Prozent der 15-jährigen nur über eine unzureichende Lesekompetenz. Unser Ziel ist es, diese Quote bis 2020 auf unter 15 Prozent zu senken.

Wie wollen Sie das erreichen?
2010 hat die Europäische Kommission eine unabhängige Expertengruppe eingesetzt, die nach Möglichkeiten sucht, die Schreib- und Lesekompetenz zu fördern; sie wird von Prinzessin Laurentien der Niederlande als Unesco-Sonderbotschafterin für Alphabetisierung geleitet. Der Bericht dieser Expertengruppe soll am 4./5. Oktober auf einer informellen Tagung der EU-Bildungsminister in Zypern im Rahmen einer Debatte zur Lesekompetenz erörtert werden. Er enthält die wichtigsten Daten und Fakten zu Lese- und Schreibkompetenz mit Beispielen aus den einzelnen Ländern, ebenso Empfehlungen für die einzelnen Altersgruppen (Kleinkinder, Primarstufenschüler, Jugendliche und Erwachsene). Was können die einzelnen Akteure tun? Die Schlussfolgerungen aus dieser Diskussion sollen dann im November vom Rat "Bildung" verabschiedet werden.

Sie haben eine neue Lesekampagne angestoßen - ist das bereits ein Baustein dieser Leseförderbemühungen?
Lesen ist der Türöffner für jedes andere Lernen, und deshalb habe ich die Kampagne "Europa hat Spaß am Lesen" gestartet: In ganz Europa sollen öffentliche Leseaktionen den unterschiedlichsten Gruppen von Zuhörern zeigen, dass es einfach Spaß macht, zu lesen und vorzulesen. Auf der Europäischen Jugendbuchmesse in Saarbrücken haben rund 40 Kinder mit Migrationshintergrund in zwölf verschiedenen Sprachen vorgelesen, das war eine tolle Leistung. Da geht es überhaupt nicht um Perfektion, sondern darum, dass man merkt: Die Kinder sind stolz, dass sie lesen können, stolz, dass sie das anderen zeigen können, ihnen machen das Lesen und die Geschichten Spaß. Man muss bei der Leseförderung unterschiedliche Wege für Grundschulkinder, Jugendliche und junge Erwachsene beschreiten.

Wie kann das bei Erwachsenen gehen?
Mit einem neuen internationalen Programm zur Untersuchung von Alltagsfertigkeiten Erwachsener (PIAAC, Programme for the International Assessment of Adult Competences) will die OECD ein ausführliches Qualifikationsprofil für Erwachsene zwischen 16 und 65 Jahren erstellen. Damit sollen sich die Lese-, Schreib- und Rechenkompetenz sowie die Problemlösungsfähigkeit in einer hochtechnisierten Umgebung bewerten lassen. Auch die beruflich genutzten Qualifikationen können damit bewertet werden. Erste Ergebnisse werden wir im Oktober 2013 veröffentlichen.

Welche Rollen spielen die Eltern in Ihren Überlegungen zur Leseförderung?
Die müssen wir in erster Linie erreichen! Die Eltern müssen dazu gebracht werden, mit den Kindern zu lesen, denn nur in der Interaktion lernen die Kinder. 15 Minuten am Tag gemeinsam lesen, und zwar jeden Tag: Wenn dieses Ziel in Europa relativ flächendeckend erreicht würde, wäre ich glücklich. 15 Minuten sind ja eigentlich gar nicht viel, und die Voraussetzungen sind so günstig: Denn Kinder lieben es, vorgelesen zu bekommen, sie mögen die Atmosphäre der Geborgenheit, merken, dass man ihnen Aufmerksamkeit und Zeit schenkt. In dieser Atmosphäre kann man gut wachsen.

Jungen gelten oft als die Sorgenkinder beim Lesen: Braucht man für sie besondere Leseförderprogramme?
Da möchte ich erst mal widersprechen: Jungen werden zu Sorgenkindern gemacht. Sie haben durchaus Interesse an Büchern, schätzen aber eben nicht dieselben Inhalte wie Mädchen. Und wir gehen bei der Auswahl des Lesestoffs immer noch zu sehr von weiblicher Lektüre aus - vielleicht auch, weil häufig Mütter, Erzieherinnen, Lehrerinnen, Bibliothekarinnen die Bücher aussuchen. Jungs lieben Abenteuer, Comics, Sachbücher, aber meistens nun mal weniger Romane.

Können Jungs mit E-Readern oder Tablets leichter zum Lesen verführt werden?
Weil sie etwas Neues sind, erscheinen solche Geräte in den Augen von Jungs wie von Mädchen attraktiv. Sie machen die Kinder neugierig. Nur: Der Lesestoff darauf muss genauso spannend sein, sonst legen sie den Reader wieder schnell weg. Ich glaube, dass es generell keinen großen Unterschied zwischen der gedruckten und der digitalen Version gibt. Aber warum soll man das die jungen Leser nicht einfach selbst ausprobieren lassen?

Und bei Erwachsenen?
Bei der Kommunikation über soziale Netze und Systeme wie Facebook, MSN und SMS wird eine Sprache verwendet, die zwischen gesprochener und geschriebener Sprache liegt. Da diese Systeme einfacher zu benutzen und unmittelbarer zugänglich sind, können sie Leseschwächere durchaus motivieren. Diese informelle Form der Kommunikation wird in einigen Schulen und Bildungseinrichtungen auch schon bei den Lernprozessen berücksichtigt, aber insgesamt noch viel zu wenig einbezogen.

Mögen Sie persönlich lieber gedruckte Bücher oder Reader?
Ich bin mit richtigen Büchern aufgewachsen, ich mag es, auf Papier zu lesen, das Umblättern der Seiten zu hören, das Buch in der Hand zu halten. Bei meiner Arbeit als EU-Kommissarin lese ich aber auch gern digitale Dokumente: Man muss unterwegs nicht so viel mitschleppen, das ist ganz bequem.

Bücher gelten als besondere Ware, als Kulturgut. Einige EU-Staaten haben eine gesetzliche Buchpreisbindung, andere nicht. Welche Regelung befürworten Sie?
Das muss jedes Land für sich entscheiden, da will ich keine EU-weite Regelung vorgeben. Wünschenswert ist auf jeden Fall, dass die Regelung der Vielfalt von Literatur und deren Verbreitung dient. Allerdings starten wir in den EU-Gremien gerade eine Debatte über die unterschiedliche Handhabung der Mehrwertsteuer. Während für physische Bücher bekanntlich ein reduzierter Steuersatz angewendet werde darf, muss für E-Books der volle Satz erhoben werden. Derzeit läuft gegen zwei Mitgliedstaaten sogar ein Verfahren, weil sie für E-Books den reduzierten Mehrwertsteuersatz erheben, was aber eine Wettbewerbsverzerrung darstellt. Bis Ende des Jahres wird es einen Vorschlag zur Neuregelung dieser Mehrwertsteuersätze geben, die dann auch dem technologischen Wandel Rechnung tragen.