Interview mit Arno Geiger

"Man macht sich jeden Tag ein bisschen schuldig"

7. Januar 2010
von Börsenblatt
Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Arno Geiger über seinen neuen Roman, Alltagsglück und Dutzendherzen, über riskiertes Scheitern sowie den Unterscheid zwischen Literatur und Geschichtsschreibung.Die wichtigsten literarischen Neuerscheinungen dieses Frühjahrs werden im aktuellen, heute erscheinenden BÖRSENBLATT vorgestellt.

Die unvermeidliche Frage zu Beginn: Hat der Gedanke an den Deutschen Buchpreis, den Sie 2005 mit ihrem Roman „Es geht uns gut" erhalten haben, auf irgendeine Weise an Ihrem neuen Roman mitgeschrieben?Geiger: Einer der Werte, die der Buchpreis für mich erzeugt hat, ist größere Bewegungsfreiheit, ökonomisch und persönlich. Mit persönlich meine ich die Bewegungsfreiheit aufgrund der Bestätigung – Selbstvertrauen, wenn man so will. Gleichzeitig, und das ist wichtig, habe ich einen heftigen Unwillen verspürt, für den Rest meines Lebens der Autor von „Es geht uns gut" zu sein. Diesen Punkt wollte ich lieber früher als später regeln. Wenn man ständig auf etwas zurückverwiesen wird, das hinter einem liegt, ist das wie ein Mühlstein, der einem am Hals hängt. Aber natürlich sollte auch von einem pragmatischen Standpunkt aus das neueste Buch nach Möglichkeit immer das bisher beste sein; wobei die Betonung auf nach Möglichkeit liegt.

 

Der Titel „Alles über Sally" erinnert zunächst an den Film „All about Eve"; mit Anne Baxter oder Bette Davis hat die Sally in Ihrem Buch aber doch gar nichts zu tun. Wer ist diese Sally, und was hat Sie an dieser starken Frauenfigur interessiert?Geiger: Wer Sally ist? Das kann ich in wenigen Sätzen nicht zusammenfassen, ohne dem Roman in den Rücken zu fallen. Um das Wenigste zu sagen: Sally ist eine Frau, die ein kompliziertes Privatleben führt und auch ein kompliziertes Berufsleben hat. Aber eines der Dinge, die mich im Vorfeld am meisten interessiert haben, ist, dass Frauen um die fünfzig in unserer Gesellschaft im positiven Sinn immer auffälliger werden: selbstbewusst, interessant, klug, sexy, lebenserfahren. Der Vorteil einer Protagonistin, die nicht mehr zwanzig ist, besteht ja unter anderem darin, dass die Zwanzigjährige Teil der älter gewordenen Person ist, wie, sagen wir, ein älterer Trakt integriert ist in ein mit den Jahren beträchtlich größer gewordenes Schloss.

 

Als Sally und ihr Mann Alfred im Urlaub sind, wird in ihr Haus in der Wiener Vorstadt eingebrochen. Welche dramaturgische Funktion hat dieser Einbruch?Geiger: Die beiden reagieren unterschiedlich auf den Einbruch und fühlen sich jeder vom anderen im Stich gelassen, womit sie wiederum ihr Verhalten im Zuge der sich entspinnenden Handlung rechtfertigen. Für Alfred bedeutet der Einbruch eine massive Verletzung seiner Intimsphäre, Sally nimmt den Einbruch nicht so körperlich wahr. Sie ist weniger verletzlich und deshalb widerstandsfähiger bei Zusammenstößen mit der Welt. Sally hat eindeutig mehr Mumm. Alfred ist verwundbarer. Für einige Zeit geht dann jeder den gemeinsamen Weg auf eigene Faust, sie sind wie zwei Schiffe auf dem offenen Meer. Aufgrund der momentan rauen See halten sie Distanz zueinander, denn wenn sie aneinandergebunden wären, würden sie einander zertrümmern. – Man sieht, die beiden haben es in ihrer Beziehung zu einer gewissen Lebenskunst gebracht und kommen gut vorwärts, obwohl es nicht immer danach aussieht.

 

Sowohl Sally als auch Alfred sind in einem Alter, in dem man schon sehr viele Erinnerungen angehäuft hat und sich zugleich noch weigert, den Gedanken ans Altwerden zuzulassen. Die beiden haben eine Balance zwischen Glück und Unglück gefunden – wobei Alfred sich damit besser arrangieren kann als Sally, die von Sehnsüchten angetrieben und in Unruhe versetzt wird. Ist „Alles über Sally" auch ein Roman über die langsame Verwandlung von Lebenswünschen ins machbare, bescheidene Alltagsglück – samt Eingeständnis, dass da zwei „Dutzendherzen" schlagen?Geiger: Die Wendung bescheidenes Alltagsglück gefällt mir nicht besonders, denn Alltagsglück ist nicht bescheiden, sondern wertvoll. Aber Sie meinen natürlich, dass das Glück von Alfred und Sally bescheiden ist verglichen mit dem, was sich die beiden als junge Menschen vorgenommen hatten. Der Vergleich hinkt aber insofern, als sich die Ansprüche ändern und sich gewisse Einsichten einstellen, zum Beispiel, klar, dass man nicht auserwählt ist und nur ein Dutzendherz zur Verfügung hat für ein kompliziertes Leben. Aber die Wünsche von früher sind in mancher Hinsicht hinfällig geworden und durch neue Wünsche ersetzt, die irgendwann erneut durch neue Wünsche ersetzt werden. Und überhaupt, eine Beziehung, die nach dreißig Jahren noch immer Glück ermöglicht, besitzt, finde ich, einen prinzipiellen Wert, auch wenn man zwischendurch den Faden verliert. Das Alltagsglück, wenn es sich wieder einstellt oder besser, wiederhergestellt ist, hat die Tiefe von drei Jahrzehnten Beziehung. Das ist doch etwas!

 

„Man macht einen Roman aus der Sünde, so wie einen Tisch aus Holz" – dieses Zitat von Julien Green haben Sie Ihrem Roman vorangestellt. Was ist die Sünde, aus der Ihr Roman gezimmert ist?Geiger: Es ist die alltägliche, zwischenmenschliche Sünde, die in dem Satz von Sally kulminiert, menschliche Beziehungen würden nicht funktionieren ohne ein bisschen Unaufrichtigkeit. Und auch im Liebesverrat ist „Alles über Sally" ein Alltagsroman, Alltagsroman in dem Sinne, dass zu leben immer auch heißt, sich schuldig zu machen, wie Peter Handke es ausgedrückt hat. Man macht sich jeden Tag ein bisschen schuldig vor seinem Gegenüber und umgekehrt. Davon erzählt der Roman. Und vom trotzdem möglichen Glück.

 

Ehebruch ist kein neues Thema in der Literatur und gerade in den letzten Jahren ein beliebtes Sujet – er wird allerdings meist von männlichen Protagonisten ausgeführt und aus einer sehr männlichen Perspektive beschrieben. Sie haben einen anderen Weg gewählt ...Geiger: Weil mich der männliche Blick nicht sonderlich interessiert. Er hat sich in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich weniger verändert als der weibliche.

 

Sie erzählen aus der Perspektive einer Frau, die sich mit großer Selbstverständlichkeit Freiheiten nimmt, die gesellschaftlich zwar vorhanden, aber doch noch immer tabuisiert sind. War es für Sie als Autor schwierig, diesen anderen Blickwinkel zu wählen?Geiger: Die Aufgabe von Schriftstellern besteht unter anderem darin, sich das Schreiben so schwer wie möglich zu machen, ohne dass man es merkt. Das ist sozusagen der künstlerische Idealfall. Also ja, schwierig. Aber lohnenswert. So oder so macht es mir nichts aus, wenn da und dort ein Stück Scheitern enthalten ist – als eine Art Ritterschlag. Das mögliche Scheitern ist einkalkuliert, wenn ich mir sage, jetzt probiere ich etwas, das nicht selbstverständlich ist. Vom riskierten Scheitern lebt die Literatur, und alles andere ist Quatsch.

 

Sie sind, finde ich, erstaunlich gut in die Rolle von Sally geschlüpft.Geiger: Es gilt für mich, was für jede Autorin und für jeden Autor gilt: Es ist fatal, an sein Geschlecht zu denken, wenn man schreibt. Das sagt Virginia Woolf. Also, dieses Wegschieben des eigenen Geschlechts gelingt mir, glaube ich, ganz gut, und das freut mich, denn ich habe nur das eine Leben und kann doch – sozusagen von Berufs wegen – sehr unterschiedliche Leben und sehr unterschiedliche Perspektiven auf die Welt ausprobieren. Das macht den Blick auf die Welt für mich reicher, und für die Leserinnen und Leser auch.

 

Wir erfahren nicht nur sehr viel über Sally, sondern auch über ihren Mann Alfred (nicht zuletzt gegen Ende des Romans in einem langen, an Molly Bloom erinnernden Monolog). Sie wechseln häufig die Perspektive zwischen Sally und Alfred, was trotz der Genauigkeit der Figurenzeichnung eine flirrende Atmosphäre schafft: Man kann am Innenleben der einen Figur wieder etwas über das Innenleben der anderen lernen. War diese doppelte Perspektive von Anfang an bewusst gewählt?Geiger: Für mich ist ein Roman mit einer eindimensionalen, einseitigen und somit auf Rechthaberei fußenden Perspektive keine Option. Die Geschichtsschreibung strebt nach einer einzigen Version dessen, was war. Literatur aber bleibt immer offen als etwas, das in einem bestimmten Möglichkeitsrahmen gewesen sein kann oder hätte gewesen sein können. Gute Literatur ist sich immer bewusst, dass jede Perspektive hinterfragbar und anfechtbar ist, die eigene auf mich und die des anderen auf mich und meine auf den anderen. Gerade in der heutigen Zeit muss man sich wieder ständig bewusst machen, wie gefährlich ein starrer Blick auf die Welt ist – Fanatiker und Fundamentalisten haben einen starren Blick auf die Welt. Um so wichtiger ist es, dass man bequeme Charakterisierungs- und Identifikationsraster, von denen es in der Literatur wimmelt, durchbricht.

Also verändert sich der Blick auf Alfred im Laufe des Romans, das heißt, der Blick auf ihn wird komplexer. Und deshalb ändert sich der Blick auf Sally. Erst der Monolog von Alfred ermöglicht ein dreidimensionales Bild von ihr.

 

In „Es geht uns gut" spiegelt sich in der Familiengeschichte auch die Geschichte eines wechselvollen Jahrhunderts – Politik und das Private sind, durch das Herausgreifen bestimmter entscheidender Episoden im Leben Ihrer Figuren, eng miteinander verknüpft. Bei „Alles über Sally" spielt die große Historie nicht in diese Biografien hinein. Oder doch, auf subtilere Weise – als Mentalitätsgeschichte?Geiger: Ja, unbedingt! Der Unterschied zu „Es geht uns gut" ist ja vor allem der, dass ich aus „Es geht uns gut" einiges gelernt habe. Die Epoche als Hintergrund ist in „Alles über Sally" nicht weniger wichtig, aber zwangloser in die Handlung und in das Denken der Figuren eingeflochten. Ich individualisiere die Historie in „Alles über Sally" konsequenter – und das ist ja seit jeher die größte Stärke von Literatur: dass sie vom Leben einzelner Menschen erzählt und dass im Leben von Individuen Geschichte erfahrbar wird. In der Geschichtsschreibung ist es meist umgekehrt, sie entindividualisiert das Leben und zeigt das Leben der Menschen als Prozess.

Die Fiktion eines Romans sagt niemals: So war es wirklich, sondern immer: So könnte es gewesen sein. Deshalb kann die Fiktion der Wahrheit näherkommen oder kommt ihr näher als die Geschichtsschreibung. Jedenfalls lesen wir, wenn wir etwas über die Gesellschaft des mittleren 19. Jahrhunderts erfahren wollen, nicht Geschichtsbücher, sondern wir lesen die besten Romane aus dieser Zeit.

 

Beeindruckend ist die Präzision, mit der Sie nuancierte Gefühlsbewegungen nicht benennen, aber erzählen. Ihre Figuren sind tatsächliche Charakter: nicht definiert, sondern eigen, sich entwickelnd in ihren Widersprüchen, Unsicherheiten, Unzulänglichkeiten. Es scheint, als hätten Sie alles aus Ihrem Manuskript verbannt, was dieses Erzählen stören könnte. Wie gehen Sie bei der Arbeit an solch einem Text und der Entwicklung Ihrer Figuren vor?
Geiger: Ich kann es nicht ausstehen, wenn ein literarischer Charakter auf Behauptungen basiert, und ich habe mich noch nie darauf eingelassen, einen festen Charakter zu konzipieren, den ich mit Inhalten fülle. Am Anfang steht die schwer greifbare Idee von einer Person. Diese noch virtuelle, vage und rätselhafte Person konfrontiere ich mit einer Geschichte, und je länger diese Person auf verschiedene Situationen reagiert, desto plastischer wird sie – bis sie, im besten Fall, Atem und Pulsschlag hat. Die wirklichen Dichter begegnen ihren Figuren erst, nachdem sie sie geschaffen haben, schreibt Elias Canetti. An diesem Satz ist etwas dran, auch wenn das Wort begegnen ungenau ist und das nachdem einige Dinge überspringt. Ein Gefühl des Erkennens jedenfalls tritt bei mir nur im Moment des Schreibens ein, nicht danach. Zwingenderweise fällt ein Charakter in dem Moment, in dem das Buch geschrieben ist und der Puls der Figur angefangen hat zu schlagen, wieder ins Rätselhafte zurück – wie bei jedem Menschen. Etwas, das lebt, kann nicht festgelegt werden. Auch eine Romanfigur, die festgelegt werden kann, ist tot. Lebt sie jedoch, bleibt sie offen.