Interview mit Christine Brugger

"Geschmackskomplizen herauszufinden - das macht großen Spaß""

16. Juli 2015
von Börsenblatt
Christine Brugger ist Sensorikerin und Sensorikforscherin. Die ausgebildete Ernährungswissenschaftlerin will das, was auf den Teller kommt, mit allen Sinnen erlebbar machen. Und: Sie glaubt, dass mit der veganen Welle eine große Herausforderung auf die Gastronomie zukommt.
Ein Geschmackserlebnis soll sich aus Ihrer Sicht nicht allein durch Geschmack und Aroma definieren, sondern auch durch die Textur einer Speise… Warum beschäftigen Sie sich so eingehend damit?

Brugger: Ich will den Produkten auf den Grund gehen, sie anders erleben und dazu die Sinne einsetzen. In der wissenschaftlichen Ausführung der Sensorik, wie ich sie anwende, steckt alles drin: Soziologie, Psychologie, Statistik, Ökotrophologie… es ist wahnsinnig vielfältig und spannend. Es geht darum, das Unbewusste bewusst zu machen, seine Sinne zu schärfen und Reize anders wahrzunehmen. Es geht um Aroma, Geschmack, Struktur… Das ist komplex, aber nicht kompliziert.

Wie kann man schon Kindern dabei helfen, einen Sinn für natürliche Aromen zu entwickeln?

Brugger: Tatsächlich werden schon im Mutterbauch Nahrungspräferenzen geprägt. Je vielseitiger sich eine schwangere Frau ernährt, desto geschmacksfreudiger ist später das Kind. Und schon von klein  auf an sollte Selberkochen ein Bestandteil des Alltags sein, ob zuhause, im Kindergarten oder später in der Schule. Dabei kann man das Kind mitmachen lassen und auch mal selber ganz anders an die Sache herangehen. Zum Beispiel mit Gemüse und Obst nach Farben arbeiten oder mal wahre Geschmacksexplosionen provozieren.

Kinder sind da sehr experimentierfreudig, weil sie noch nicht so festgelegt und geschmacklich konditioniert sind. Ich bin auch sehr dafür, Kochen als Schulfach wieder einzuführen. Wenn der Geschmackssinn erst einmal ein bestimmtes Level erreicht hat, man gewisse Erwartungen hat, will man nicht mehr dahinter zurückfallen, keine Abstriche in der Qualität machen.

Haben Sie einen Tipp an "Otto Normalverbraucher" in Hinblick auf die Essensauswahl?

Brugger: Die 180 Grad-Drehung des Produkts im Supermarkt: Immer auf die Zutatenliste schauen. Keine Geschmacksverstärker, keine zugesetzten Aromastoffe, die den natürlichen Produktgeschmack maskieren. Damit betrüge ich nur meinen Gaumen. Ein gutes Beispiel ist Fruchtjoghurt aus nur drei Zutaten: Joghurt, Zucker, Frucht. Solche Produkte gibt es jetzt wieder – wie früher. Diesen Weg wünsche ich mir für viele Lebensmittel. Denn Qualität wird im Ursprung erzeugt, nicht im Verarbeitungs- oder Veredelungsprozess.

Meinen Sie, dass der starke Trend zur vegetarischen und veganen Küche weiter anhalten wird?

Brugger: Ich bin davon überzeugt, dass er sich fortsetzen wird. Vegetarische / vegane Ernährung ist zum Megatrend geworden, ist in aller Munde, und auch Leute ohne ideologischen Hintergrund sind dafür offen. Dazu trägt das ebenfalls große Thema "Nachhaltigkeit" bei, inklusive Tierschutz, Gentechnik, Lebensmittelskandalen. Fleischkonsum wird weiter hinterfragt werden. Ich bin mir sicher, dass auf die Gastronomie und Großküchen eine große Herausforderung zukommt.

Wie halten Sie es persönlich damit?

Brugger: Ich bin auf einem Hof aufgewachsen, hatte eine starke emotionale Bindung zu den Tieren und habe mich selbst längere Zeit vegetarisch ernährt. Heute esse ich alle zwei bis drei Wochen mal Fleisch, und dann kann ich es genießen. Allerdings: Hirn würde ich nicht essen wollen. Ich mag die Konsistenz nicht – als Kind ist es mir als Eierstich verkauft worden - und es macht für mich emotional einen Unterschied zur Lende... Doch grundsätzlich finde ich, dass von einem Tier möglichst viel Verwendung finden sollte.

Kochen Sie selbst anders als andere, gehen Sie anders an Zutaten heran?

Brugger: Wenn ich koche, kommen mir die Ideen spontan. Ich bin nicht so von Anfang bis Ende durchorganisiert, viel Inspiration kommt beim Machen. Heute gab es bei mir zum Beispiel weißen Spargel mit einer Orangen-Buttersoße mit Vanille, dazu Kartoffeln mit Schwarzkümmel und einen grünen Salat. Ausgangspunkt war eine große Menge an Spargel, für die der Bauer hier aus der Nachbarschaft jetzt wohl einfach noch nicht die Nachfrage hatte… 

Sie geben Genuss-Seminare. Was genau passiert da? Und wer sind Ihre Kunden?

Brugger: Es kommen Teilnehmer aus der Lebensmittelindustrie, aber ebenso Gastronomen, die ihre Speisekarte sensorisch neu beleuchten wollen. Journalisten sind dabei, aber auch Endkunden, die Bescheid wissen wollen und zum Beispiel über eine Apfeldegustation in das Thema einsteigen. Wichtig ist: Sensorik muss selbst erlebt und gespürt werden. Ich möchte zum Ausprobieren anregen und dabei unterschiedliche Zugänge schaffen: Man kann beispielsweise Äpfel verkosten und versuchen, eine Beschreibung aus meinem Apfel-Buch in der Reihe "Geschmacksbegegnungen" nachzuempfinden. Oder ich mache das Geschmackserlebnis durch eine Kombination von Zutaten deutlich. Wenn ich eine Jakobsmuschel mit Apfelspalten von der Sorte Topaz kombiniere, dann erlebe ich, welchen Genuss die spezielle Textur und Säure des Topaz in diesem Zusammenspiel verschafft – und darauf kommt es an: Jeder Apfel hat seinen eigenen Charakter, man kann die Apfelsorte nicht einfach austauschen.

Die Spargelzeit beginnt gerade. Worauf sollte man hier beim Aroma machten?

Brugger: Es gibt ja grünen und weißen Spargel, er entstammt der gleichen Pflanze. Sensorisch ist er allerdings ein Phänomen: Im rohen Zustand schmecken beide „grüngrasig“, wie Zuckerschoten, wobei der Weiße etwas mehr Süße hat. Gekocht ändert sich das schlagartig: Der Grüne schmeckt "grünkrautig", weil er mehr so genannte Terpene enthält, einen Tick Richtung Fenchel und Sellerie. Der Weiße riecht nach gekochtem Mais und Kartoffeln, er verliert seine Bitterkeit und erhält eine leichte Buttrigkeit. Deshalb bieten sich unterschiedliche Kompositionen an. Weißer Spargel wird in der Spitzengastronomie zum Beispiel gerne mit Vanille kombiniert. Solche Geschmackskomplizen herauszufinden, das macht großen Spaß.

Sie mögen die japanische Küche ganz besonders gerne. Was begeistert Sie daran so sehr?

Brugger: Aroma, Geschmack, Textur – die japanische Küche arbeitet auf allen drei Ebenen, und dazu mit so viel Leidenschaft, einem hohen ästhetischen Anspruch und großer Hingabe an die Produkte. Selten habe ich so viele Geschmacksexplosionen erlebt wie in Japan – es hat mich umgehauen. Und man hat dort das Vokabular zur Beschreibung! Für mich ist das Essen in Perfektion: Man holt das Beste aus den Zutaten heraus. Man muss allerdings das Salzige mögen – und ich finde ein Frühstück aus Misosuppe und Grüntee toll.

Zur Person

Christine Brugger, geboren 1973 in Friedrichshafen, machte in Gießen ihr Diplom in Ökotrophologie / Ernährungswissenschaft. Sie arbeitete in der internationalen Lebensmittelindustrie, der staatlichen Forschung und als Hochschuldozentin. 2011 gründete sie AromaReich (www.aromareich.ch), um die Geschmacksnerven von Konsumenten in kulinarisch-sensorischen Seminaren und Büchern zu schulen – und ihnen die Qualität von Produkten zu vermitteln. Ihr jüngstes Buch »Geschmacksbegegnungen Apfel« ist in der Schweizer Edition Cucina e Libri erschienen.

Mehr über kulinarische Themen und den Kochbuchmarkt lesen Sie im Börsenblatt-Spezial Essen & Trinken, das am 17. April erschienen ist.