Interview mit Hellmut Th. Seemann

"Wie kommt es, dass man sich für Altes so ungeheuer interessiert?"

5. April 2016
von Börsenblatt
Die "Zeitschrift für Ideengeschichte" – ein einzigartiges Projekt in der deutschen Geisteslandschaft – feiert ihren zehnten Jahrgang. Hellmut Th. Seemann, der Präsident der Klassik Stiftung Weimar, über die Geschichte, das Konzept und die kulturelle Wirkung der Zeitschrift.

„Altgier“ titelt die erste Ausgabe des Jubiläumsjahrgangs der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ („ZIG“) – ein Wortspiel. Geht es darum, die Neugier auf das „Alte“ zu wecken?
„Altgier“ behauptet, dass es Gier auf Altes genauso gibt wie Neugier, aber es war für uns auch reizvoll, mit dem zehnten Jahrgang an unser erstes Heft zu erinnern – und das hieß nicht weniger ironisch „Alte Hüte“. Die Frage, die wir uns damals stellten und bis heute stellen: Wie kommt es, dass man sich in einer bestimmten kulturellen Konstellation so ungeheuer für Altes interessiert?

Weshalb konzentriert sich die Zeitschrift auf Ideengeschichte?
Selbstverständlich war das vor zehn Jahren tatsächlich nicht. Ideengeschichte hat in anderen Ländern stärkere Traditionen als in Deutschland. Aber es gibt im geisteswissenschaftlichen Diskurs eine Renaissance des Begriffs. Anders als die Geistesgeschichte, die einen stärker chronologischen Ablauf suggeriert, verfolgt Ideengeschichte die großen Bögen der manchmal vergessenen und dann oft unter neuem Namen wiederkehrenden Ideenkerne und Motivketten. Man kann sagen: Die Ideengeschichte schaut mit den Augen des Philosophen auf die Geschichte der Kulturen. Und deckt dabei auch die Verpuppungen und Maskierungen geistiger Konzepte auf. Dies Interesse verbindet die sonst sehr unterschiedlichen Mitarbeiter der Zeitschrift.

Das ähnelt dem Ansatz der Ikonographie, die unabhängig vom historischen Ort Bildmotive oder –konzepte aufspürt …
Gewiss, Aby Warburgs ikonographischer Ansatz spielt in der „ZIG“ eine große Rolle. Im „Denkbild“, das wir als Rubrik führen, ist dieser Einfluss auf den Begriff gebracht.

Die ZIG wird von der Klassik Stiftung Weimar, dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und dem Wissenschaftskolleg zu Berlin herausgegeben. Wie kamen Sie zusammen?
Ulrich Raulff hatte die Idee. Gerade erst in Marbach angekommen, schien es ihm reizvoll, die traditionell enge Kooperation zwischen Weimar und Marbach zu verstetigen und zu intensivieren. Bald kam Wolfenbüttel mit ins Spiel. Helwig Schmidt-Glintzer war schnell gewonnen für das Projekt. Mit C. H. Beck fanden wir einen Verlag, der das Unternehmen großzügig begleitete. Die Zeitschrift wurde zu einer Art Blaupause für das, was wir heute den Forschungsverbund Marbach-Weimar-Wolfenbüttel nennen; 2011 fiel der Beschluss, im Bereich der Forschung institutionell stärker zusammenzuarbeiten.

Das war auch das Jahr, in dem sich das Wissenschaftskolleg in Berlin dazugesellte …
Da wir die Vorzüge der Provinzen schätzen, in denen wir arbeiten, kam nicht Berlin, sondern selbstverständlich der Grunewald dazu! Das ist für die Zeitschrift, die inzwischen auch ihren Redaktionssitz im Wissenschaftskolleg hat, wunderbar, weil man unmittelbar an die Ideenströme, die durch ein solches Haus fließen, angeschlossen ist. Dazu kommt, dass der Forschungsverbund, dem wir angehören, seine Geschäftsstelle ebenfalls im Wissenschaftskolleg aufgeschlagen hat.

Jede Ausgabe der „ZIG“ wählt vielfältige Zugänge zum Heftthema: Es gibt das schon erwähnte „Denkbild“, aber auch Leseplätze wie „Essay“, „Gespräch“, und „Archiv“.
Das Heftthema kann sich in den Rubriken widerspiegeln, aber das muss nicht regelmäßig so sein. Der Essay kann ein ganz selbständiges Stück sein, das mit dem Heftthema nicht verbunden ist. Und so ist es auch mit dem Denkbild und dem Archivstück. Wir wollten kein Korsett sondern bloß eine Figurine für jedes Heft haben, die wir immer neu ankleiden können. Ganz wichtig ist die Rubrik Archiv, denn das ist der Kern dessen, was die vier Herausgeber-Orte miteinander verbindet: dass wir über Archive, Bibliotheken und museale Sammlungen verfügen, die in der ZIG lebendig werden, weil wir dort ihre Aktualität sichtbar machen.

Wer hält die Fäden zusammen?
Die Zeitschrift wird von den Herausgebern getragen, aber ihre Lebendigkeit wäre ohne Stephan Schlak, den geschäftsführenden Redakteur,  undenkbar. Er hat eine Schlüsselfunktion. Damit eine korporative Handschrift erkennbar wird, kommt es entscheidend darauf an, wer die Redaktionsgeschäfte führt.

Wie ist die Resonanz auf die ZIG – im Buchhandel, in den Bibliotheken, in der Öffentlichkeit?
Ideengeschichte ist intellektuell wieder salonfähig. Aber jede Vierteljahreszeitschrift hat es im Buchhandel schwer. Es gibt nur noch wenige Buchhandlungen, die so etwas regelmäßig auslegen. Natürlich versuchen wir, die rar gesäten Wissenschaftsredakteure für unsere Sache zu gewinnen. Inzwischen erscheint keine Ausgabe, ohne dass nicht wenigstens ein großes Feuilleton einen Beitrag der ZIG aufgreift und so auf die Zeitschrift hinweist. Die wissenschaftlichen Bibliotheken halten die ZIG, und seit Beck die Zeitschrift auch online vertreibt, haben wir studentische Abonnements hinzugewinnen können, was ich besonders wichtig finde. Einzelne Hefte haben eine Auflage von mehr als 2.000 Exemplaren erreicht – darüber freut sich der Verlag. Wenn man in Deutschland im Durchschnitt 1500 Abnehmer als Abonnenten oder Käufer des einzelnen Hefts hat, und weitere 250 Exemplare an internationale Bibliotheken gehen, dann, finde ich, ist das gar nicht einmal schlecht.

Interview: Michael Roesler-Graichen

Die Zeitschrift für Ideengeschichte (ZIG) erscheint vierteljährlich im Verlag C.H. Beck. Sie wird von Ulrich Raulff (Deutsches Literaturarchiv Marbach), Peter Burschel (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel), Hellmut Th. Seemann (Klassik Stiftung Weimar) und Luca Giuliani (Wissenschaftskolleg zu Berlin) herausgegeben. Geschäftsführender Redakteur ist Stephan Schlak.

Am 11. Mai erscheint Heft 2 / 2016 unter dem Titel "Der Wille zum Wissen", herausgegeben von Ulrich Johannes Schneider und Thorsten Valk.