Interview mit Jean-Baptiste Malet über sein Amazon-Buch

"Von Kultur habe ich bei Amazon nichts gespürt"

17. Mai 2013
von Börsenblatt
Anfang Mai ist im Pariser Verlag Fayard ein Buch mit dem Titel "In Amazonien – Eingeschleust in die 'beste aller Welten'" erschienen. Darin schildert der Journalist Jean-Baptiste Malet, der im Vorweihnachtsgeschäft als Zeitarbeiter im Amazon-Logistikzentrum Montélimar gearbeitet hat, seine Erfahrungen. Ralf Klingsieck hat für boersenblatt.net mit dem Autor gesprochen.

Wie sind sie auf die Idee gekommen, sich bei Amazon einzuschleusen?Ich bin Journalist in Toulon und ich liebe Bücher, besuche häufig die Buchhandlungen und weiß daher, wie viele von ihnen schon dem ungleichen Wettbewerb mit Amazon zum Opfer gefallen sind. Dadurch kam ich auf die Idee, über den Amazon-Logistikstandort für Südfrankreich in Montélimar zu recherchieren und zu schreiben. Aber bei all meinen Versuchen, vor Ort mit Mitarbeitern zu sprechen, haben die alle völlig verschreckt reagiert und gesagt, dass sie nicht mit Journalisten sprechen dürfen. Das ist eine komplett verschlossene Welt. Ich war immer ein begeisterter Leser der Bücher von Günter Wallraff und so kam mir die Idee, Amazon von innen zu erkunden. Ich habe mir im vergangenen Herbst in Montélimar ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft gemietet und habe mich bei einer der Zeitarbeitsfirmen beworben, die jedes Jahr für die Weihnachtssaison Kräfte für Amazon suchen. Ich haben meinen richtigen Namen angegeben, und wenn die im Internet nachgesehen hätten, wäre sehr schnell aufgeflogen, dass ich Journalist bin. Aber alles ist gut gegangen, ich habe erfolgreich alle Tests durchlaufen und bin angeheuert worden für sechs Wochen, durchweg in der Nachtschicht. Mein Arbeitgeber war die Zeitarbeiterfirma Adecco, die Personal-Dienstleister für Amazon ist.

Welche Arbeit hat man Ihnen bei Amazon zugewiesen?Man hat sie mir nicht zugewiesen, sondern ich konnte mir eine unter vier Tätigkeiten aussuchen – zwei im Lagerbereich und zwei in der "Produktion". Im Lagerbereich hat man entweder als "Eacher" die eingehenden Waren auszupacken, zu sortieren und für das Computersystem zu erfassen oder sie als "Stower" in die Regalfächer einzuräumen. In der "Produktion" kann man als "Picker" die Waren anhand der Bestellungen zusammensuchen oder sie dann als "Packer" einpacken. Jede Tätigkeit hat ihre spezifischen Härten: Im Lagerbereich muss man viel körperliche Kraft aufwenden, denn die verschiedenen Artikel kommen nicht zu Hunderten an, sondern immer gleich tonnenweise. Als Picker muss man in der 36.000 Quadratmeter großen Lagerhalle pro Schicht rund 20 Kilometer laufen, während man als Packer die ganze Zeit an einem Fleck am Band stehen muss. Ich habe mich für die Arbeit als Picker entschieden, schon um viel herumzukommen. Aber egal auf welchem Posten, die Arbeit ist überall überaus schwer und körperlich strapaziös. Wegen der schlechten Arbeitsbedingungen ist die Fluktuation sehr groß. Aber die Amazon-Lager befinden sich meist in Regionen, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist und man keine Alternative hat. Im Departement Drôme, wo Montélimar liegt, beträgt die Arbeitslosenrate 11,4 Prozent. Darum findet Amazon immer wieder neue Kräfte.

Wie ist bei Amazon der Umgang mit den Mitarbeitern?Die Gruppenleiter und die Manager, mit denen wir es im Lager unmittelbar zu tun hatten, trommeln ständig, man müsse "motiviert" sein. Jede Schicht beginnt nicht nur mit der Vorgabe, was geschafft werden muss, sondern auch mit der Aufforderung, "Spaß bei der Arbeit" zu haben. Das ist reiner Hohn, denn gleichzeitig wird bei jedem Mitarbeiter per Computer ständig die Produktivität verfolgt. Wenn die nicht den Erwartungen entspricht oder zeitweise zurückgeht, wird man im persönlichen Gespräch ermahnt oder verwarnt und wer von den Zeitkräften sich nach Meinung der Vorgesetzten nicht genug anstrengt, kann von einem Tag zum anderen entlassen werden. Wer neu bei Amazon anfängt, bekommt eine Liste von Begriffen in Englisch für die verschiedenen Operationen, Abteilungen oder Posten, die er lernen und beherrschen muss, weil nur sie im Betriebsalltag zu verwenden sind. Außerdem sind alle, auch die Vorgesetzten, zu duzen und nur mit dem Vornamen anzureden.

Gibt es einen Betriebsrat und welchen Einfluss hat er?Ja, es gibt einen Betriebsrat, schließlich ist das in Frankreich per Gesetz vorgeschrieben. In Saran bei Orléans, dem ersten Amazon-Standort in Frankreich, ist der sogar sehr aktiv und hat 2009 den ersten Streik organisiert, den Amazon weltweit erlebt hat. In Montélimar war die Lage schwieriger. Da habe ich einen Gewerkschafter kennengelernt, der mir gesagt hat, dass alle Betriebsratsmitglieder besonders scharf von den Vorgesetzten überwacht werden, weil man jeden Vorwand nutzen würde, um sie loszuwerden.

Wie würden Sie ihre Erfahrungen bei und mit Amazon zusammenfassen?
Wohl nicht zuletzt aufgrund seiner amerikanischen Herkunft und "Firmenkultur" verhält sich Amazon zynischer als die meisten französischen Großunternehmen. Dort muss auch hart gearbeitet werden, aber man spielt keine idyllische Scheinwelt vor mit "Teilhabern", die glücklich und zufrieden sind. Der Vormarsch von Amazon hat zudem die Folge, dass Hunderte von Buchhandlungen, die in diesem ungleichen Wettbewerb nicht mithalten können, aufgeben müssen. Dadurch stirbt nach und nach ein landesweites Netz von unersetzlichen "Bastionen" der Kultur. Von Kultur habe ich bei Amazon nichts gespürt. Dort ist das Buch eine Ware wie jede andere und ist mitten unter Hausrat oder Spielzeug in die Regale einsortiert, wo gerade Platz ist. Unterm Strich bleibt, was eine Studie des Buchhändlerverbands SLF unlängst festgestellt hat: Der Internethandel mit Büchern im Stile von Amazon benötigt 18-mal weniger Arbeitskräfte als der traditionelle Buchhandel. Das sind schlechte Aussichten für Buchhändler und alle, denen das Buch und seine Zukunft am Herzen liegt. Darüber muss sich auch jeder Leser im Klaren sein, der seine Bücher per Klick im Internet bestellt.

Interview: Ralf Klingsieck

Das Buch "En Amazonie. Infiltré dans le 'meilleur des mondes'" ist Anfang Mai bei Fayard erschienen.