Interview mit Mathias Énard

Schmerzensecho

2. März 2017
von Börsenblatt
In seinem preisgekrönten Roman "Kompass" verwebt Mathias Énard Orient und Okzident – auch als Hommage an die vielen zerstörten Orte im Nahen Osten.

Der Begriff Orient ist schillernd. Was daran ist Realität, was Phantasmagorie?
Natürlich hat "Orient" zahlreiche Bedeutungsebenen, zunächst im geografischen Sinne: der Orient als solcher, mit Ländern wie Iran, Syrien, die heute existieren und in der Geschichte existiert haben. Dazu kommt das, was ganz Europa um das Wort Orient herum an Sinn konstruiert hat – die vielfältigen imaginären Repräsentationen. Und so gibt es in jedem Land Europas einen spezifischen Sinn für den "Orient". Frankreich, Deutschland, England und Italien beispielsweise haben jeweils ihre Auffassung von Orient, weil es eigene, voneinander abweichende Geschichten und Beziehungen zu der Region gibt. Frankreich und der Orient sind wegen der französischen Kolonisierung Nordafrikas, Syriens und des Libanon nicht voneinander zu trennen. Und der Orient der Briten nicht von Indien. Der Orient der Deutschen wiederum ist viel mehr von der Bibel und dem Koran geprägt, ist also ein Orient der Texte, – und auch der Wüste. Die Versionen des Orients haben mit den unterschiedlichen Facetten des Begriffs zu tun.

Ihr Roman "Kompass" spiegelt die Annäherung von Orient und Okzident in der Geschichte eines Liebenden, des Musikwissenschaftlers Franz Ritter, der das Gegenüber seiner Liebe, die Orientalistin Sarah, nie erreicht – für ihn die verpasste Gelegenheit seines Lebens …
Was sich am Ende dieses Romans einer Liebe ereignet, ist die Hoffnung auf Wiederannäherung, die Hoffnung von Franz, Sarah doch noch zu erreichen. Die Liebesgeschichte ist aber vor allem das Movens, das Franz über das persönliche Schicksal hinaus zur Erkenntnis der bestehenden Differenz treibt. Ich bin sicher, dass diese Unterschiedlichkeit nicht geleugnet, dass sie niemals vergessen werden kann. Trotzdem bleibt die Möglichkeit, den anderen jenseits dieser Differenz zu erreichen.

Der "Kompass" – durch den sich ein melancholischer Grundton zieht – ist zugleich eine Hommage an die Orte in Syrien oder anderswo im Nahen Osten, die zerstört und vielleicht für immer verloren sind. Ist Ihnen dieser Aspekt wichtig?
Ja, aber nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Gedenkens oder des Musealen, sondern auch unter dem Aspekt der Trauer, der Melancholie – wenn man an das zerstörte Aleppo oder an Palmyra in Syrien denkt, und daran, wie viele Städte im Laufe des Krieges in Syrien verloren gingen, aber auch in anderen Regionen des mittleren Ostens. Das tut weh, und der Roman ist insofern auch das Echo dieses Schmerzes.

Ist der Graben zwischen Europa und dem Orient tiefer als noch vor einigen Jahrzehnten?
Je nachdem. Wir haben es meiner Meinung nach mit einem sehr oberflächlichen Bild der Beziehung Europas zum Orient zu tun – ein Bild, das von Gewalt und Dschihadismus geprägt ist. Es besteht ernsthaft die Gefahr, dass diese oberflächliche Ein­stellung für etwas Tiefgründiges gehalten und so verinnerlicht wird. Das kulturelle Interesse für Länder wie die Türkei, den Maghreb, für den mittleren Osten ist doch eine sehr friedliche Angelegenheit. Aber die tägliche Gewalt, die Anschläge, der Dschihadismus, verdecken ein wenig diese Realität.

Glauben Sie, dass Ihre Literatur einen Beitrag zur Annäherung an das Phänomen Orient leisten kann?
Es geht mir um ein besseres Verständnis der zeitgenössischen philosophischen, künstlerischen und musikalischen Strömungen – und um die Schönheit des Orients. Die Literatur kann uns Hoffnung geben: dass nicht alles verloren ist, dass nicht alles Gewalt ist, sondern, im Gegenteil, dass auch dieser Teil der Welt eine Zukunft hat.

Im Prozess des Verstehens spielt die Musik eine wichtige Rolle – schließlich ist der Protagonist Musikwissenschaftler …
Die Musik braucht keine Übersetzung, man kann sie unmittelbar verstehen. Das erklärt auch, weshalb es zu allen Zeiten einen so regen Austausch zwischen der Musik des Westens und des Ostens gegeben hat.

Leipziger Ehrung für Mathias Énard

Der Schriftsteller wurde 1972 in Frankreich geboren und lebt heute in Barcelona, wo er Arabistik lehrt und das libanesische Restaurant "Karakala" betreibt. Am 22. März wird er bei der Eröffnung der Buchmesse mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Mit ihm würdigt die Jury seinen Roman "Kompass" (Hanser Berlin), der in Frankreich schon den Prix Goncourt gewonnen hat.