Interview mit SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach

"Wir haben zuviel Rauschen"

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Die Pharmaindustrie empfiehlt: "Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker". Doch wie so oft, ist das leichter gesagt als getan. Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD in Berlin, fordert die Deutschen auf, sich stärker selbst um ihr körperliches Wohlergehen zu kümmern. Können Ratgeber davon profitieren?
In Ihrem Buch "Gesund im kranken System" (Rowohlt) stellen Sie dem deutschen Gesundheitswesen erneut ein miserables Zeugnis aus. Was stört Sie derzeit am meisten?
Dass so wenig für die Vorbeugemedizin getan wird. Krankheiten werden erst behandelt, wenn sie sich entwickelt haben. In der Laienpresse liest man viel über Vorbeugung, aber in der praktischen Medizin spielt sie kaum eine Rolle. Ein Arzt kann zwar sagen, was das beste Medikament ist, um zum Beispiel hohen Blutdruck zu behandeln, was die beste Ernährung ist, um ihn zu verhindern allerdings nicht.


Wie ließe sich das ändern?
Wenn man wirklich wollte, dass die Bevölkerung gesünder bliebe, müsste man zunächst der Vorbeugemedizin im Studium viel mehr Raum geben. Zweitens wäre die Hausarztmedizin zu stärken und dann dafür zu sorgen, dass nicht nur die schnelle Behandlung im Akutfall bezahlt wird, sondern die längerfristige Versorgung und Beratung von Patienten, die gesund bleiben wollen. Punkt drei: Wir bräuchten eine Honorierung, die genau das stützt.

Lässt sich das politisch denn überhaupt durchsetzen?
Denkbar wäre es, wenn auch nur gegen den Widerstand der Ärzteschaft und der Funktionäre. Sie haben kein Interesse daran, dass die Mittel umverteilt werden, und die Krankheiten, von denen sie leben, künftig verhindert werden. Unionspolitik wird meines Erachtens zuviel durch Zurufe aus den Verbände und von Lobbyisten bestimmt, außerdem besteht zu wenig Offenheit, um in eine inhaltliche Diskussion einzutreten. Deshalb hoffe ich auf eine neue Konstellation nach den Wahlen im Herbst. In der großen Koalition werden wir für die Vorbeugemedizin nicht viel erreichen können, weil wir uns da auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen, und der lautet: Es bleibt alles ungefähr so, wie es ist.

Der Bürger müsse lernen, selbst zurechtzukommen, sagen Sie. Welche Rolle könnten da Bücher spielen?
Da sie meist nur allgemeine Empfehlungen bieten, lediglich eine kleine. Ein Beispiel: Um nicht herzkrank zu werden, ist es günstig schlank zu sein. Wenn sie aber bereits herzkrank sind, ist es eher von Vorteil, nicht schlank zu sein. Das sind Dinge, die der Laie nicht weiß – und die lassen sich auch nicht in einer Broschüre oder in einem Buch erklären. Angewiesen wäre man hier auf Spezialisten, aber diese stehen derzeit nur einer kleinen Gruppe von Privatversicherten zur Verfügung.

Lesen Sie hin und wieder Gesundheitsratgeber?
Beruflich ja. Ich bekomme regelmäßig Bücher auf meinen Schreibtisch zu den Themen, die mich interessieren – viele wurden aber von Halblaien geschrieben, die überhaupt nicht im Stoff drin sind. Meine Beobachtung ist: Auf ein brauchbares Buch kommen drei, in denen wissenschaftlich gesehen Unsinn steht. Wir haben zuviel Rauschen, was aber auch für das Internet gilt.

Verlage verbreiten Unsinn?
Zum Teil. Leider verkauft sich oft die falsche, aber spektakuläre Nachricht besser als die richtige und weniger spektakuläre. Wenn ich heute ein Buch herausbringen würde, in dem es darum geht, dass jeder alles essen kann, was er will – und trotzdem lange lebt: Das wäre wissenschaftlich unhaltbar, viele Menschen würden aber dennoch zugreifen. Sich auf Bücher zu verlassen hätte nur dann Sinn, wenn man sich auch auf die Informationen verlassen könnte. Die Verunsicherung durch schlechte Bücher und falsche Darstellungen ist sehr schwer zu bekämpfen. Wenn man also offen ist: Es gibt keine Alternative zu einer besseren Ausbildung der Mediziner und einer besseren Honorierung der Vorbeugemedizin.

Fachverlage arbeiten mit einem engmaschigen Gutachtersystem. Empfiehlt sich das auch für Publikumsverlage, die Ratgeber machen?
Ein solches System wäre sicher richtig. Aber ich sehe es auch so: Bücher sind Konsumobjekte. Menschen sind weitgehend frei darin, was sie kaufen – und Verlage, was sie verkaufen. Wenn sich jemand auf ein Buch verlässt, darin aber Unsinn steht, ist das seine eigene Entscheidung. Damit habe ich kein Problem. Problematisch wird es, wenn in den Bereichen, wo der Bürger ein Recht darauf hat, dass die Information stimmt. Unsere Ärzte wissen zu wenig, und der Arzt, der sich fortbildet, wird dafür nicht bezahlt. Das sind die wirklichen Probleme.

Sie fordern seit Jahren eine Bürgerversicherung, viele halten das aber für unrealistisch. Sie bleiben dabei?
Selbstverständlich. Ich halte es eher für unrealistisch, dass das jetzige System, das 90 Prozent der Versicherten zu Patienten zweiter Klasse macht, bestehen bleibt. Wer hat mehr politisches Gewicht? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Ganze kippt.

Seit vier Jahren gehören Sie dem Bundestag an, scheuen keine Auseinandersetzung und bekommen reichlich Gegenwind. Haben Sie nicht manchmal Lust, der Politik den Rücken zu kehren?
Nein, mir geht es ja nicht um ein bequemes Leben, sondern darum, etwas zu verändern. Da bin ich in der Politik genau an der richtigen Stelle. Außerdem bin ich nicht übermäßig harmoniesüchtig – ich hoffe nur, dass in der nächsten Legislaturperiode mehr erreicht werden kann.

Wie gehen Sie mit Stress um?
Ich mache sehr viel Sport. Das entspricht meinem Temperament und ist für mich die einfachste Art, Stress zu bewältigen.

Denken Sie bereits über ein neues Buch nach?
Noch nicht. Ich schreibe auf jeden Fall weiter, das ist ganz klar. Jetzt wäre es mir aber erst einmal recht, wenn dieses Buch viel gelesen würde – bevor ein neues in die Diskussion kommt.

 

Zur Person:

Karl Lauterbach, geboren 1963 in Düren, studierte Medizin und Gesundheitsökonomie in Deutschland und den USA. Der SPD-Politiker und Bundestagsabgeordnete war Mitglied der Rürup-Kommission, des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und gehörte der Verhandlungskommission zur Gesundheitsreform an. Er ist der Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und Epidemiologie (IGKE) an der Universität zu Köln und lehrt darüber hinaus an der Harvard School of Public Health. Vor wenigen Wochen erschien sein neuestes Buch: "Gesund im kranken System" (Rowohlt).