Interview mit Thomas Krüger

Rote Linien ziehen

7. Dezember 2017
von Börsenblatt
Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, über den Begriff Gesinnungsdiktatur, über Kulturkolonialismus und die Grenzen der Toleranz.

Kann man die von Susanne Dagen initiierte "Charta 2017", in der sie wegen der Vorfälle auf der Buchmesse vor einer neuen "Gesinnungsdiktatur" warnt, auch als Reflex auf einen vor allem im Osten verspürten "Kulturkolonialismus" westlicher Prägung verstehen?
Ich lehne den in der "Charta 2017" verwendeten Begriff der "Gesinnungsdiktatur" ausdrücklich ab. Hier wird ein Popanz errichtet, der dann umso leichter einzureißen ist. Angesichts von über 7.000 Buchmesse-Ausstellern aus über 100 Staaten dieses Planeten von "Gesinnungsdiktatur" zu sprechen, ist absurd und belegt ein tiefes Missverständnis dessen, was wir Pluralismus im freiheitlichen Rechtsstaat nennen. Natürlich, bei Frau Dagen wie bei manchen Autorinnen und Autoren ostdeutscher Provenienz spielt die Herkunft schon noch eine Rolle – bei mir übrigens auch. Während in den jüngeren Generationen die Kategorien Ost und West immer mehr verschwimmen, scheinen sich mir heute in der Erlebnisgeneration der Revolution von 1989 tiefe Verletzungen im Transformationsprozess nach 1990 Bahn zu brechen. Das wird schon mal als "Kulturkolonialismus" erlebt, und es gibt ja auch objektive Gründe für diese Einschätzung. Aber es geht zu weit, eine "Aushöhlung der Meinungsfreiheit" zu konstatieren, wenn gegen antidemokratische Ausgrenzung, Geschichtsklitterung und "alternative Fakten" rote Linien gezogen werden.

Führt der Verlust an Deutungshoheit, den Angehörige der früheren DDR-­Elite empfinden, nicht zu einer Überreaktion, wenn Meinungsfreiheit ausgerechnet für rechte Verlage eingeklagt wird?
Aus meiner Sicht geht es im Kern nicht um den Verlust der Deutungshoheit von DDR-Eliten, sondern vielmehr um die zwei Drittel der DDR-Gesellschaft, die in der Diktatur nicht auf der Sonnenseite standen und sich heute wieder im Schatten verorten: durch Entwertung von Erwerbsbiografien, Altersarmut, Entvölkerung in weiten Teilen Ostdeutschlands, sieht man einmal von den "Leuchttürmen" ab. Diese zwei Drittel, die heute das Rentenalter erreichen, haben die historische Erfahrung gemacht, dass ein Regime ganz schnell in die Knie zu zwingen ist, wenn man dessen gesinnungsdiktatorischen und repressiven, ja spätstalinistischen Charakter demaskiert und als "das Volk" auf die Straße geht. Wir haben nun ein Sprachrohr dieser "Abgehängten" im Deutschen Bundestag, unter den Augen der Öffentlichkeit, und vielleicht ist das ganz gut so – im Sinne der demokratischen Auseinandersetzung.

Wie können im Umgang mit rechten und rechtsextremen Kräften zivile Standards etabliert werden, ohne dass das hohe Gut der Meinungsfreiheit dabei gefährdet wird?
Es gilt, immer wieder den kommunikativen Nahkampf zu wagen und dabei die schon erwähnten roten Linien zu ziehen. Dabei gibt es keine Denkverbote, wohl aber die famosen Grundrechtsartikel unserer Verfassung, die allein für uns leitend sein müssen. Wer explizites "Othering" betreibt, also die Exklusion ganzer Bevölkerungsteile durch die Berufung auf einen Volks­körper, und allein definiert, wer überhaupt zu diesem "Volk" gehört, kann nicht mit demokratischer Toleranz rechnen, sondern gerät in die argumentative Defensive. Natürlich müssen die Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern ernst genommen werden, aber mindestens ebenso auch die Sorgen all derjenigen, die durch eine rückwärtsgewandte Wiederbelebung des "Völkischen" ausgegrenzt werden und nun Sorge um Leib und Leben haben müssen. Wir leben in einer modernen Migrationsgesellschaft, und da gilt es, Ambiguitäten und Widersprüche nicht nur auszuhalten, sondern zu akzeptieren.

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