Interview mit Vandenhoeck & Ruprecht-Chefin Carola Müller

"Fokussierung hilft"

2. September 2015
von Börsenblatt
Digitalisierung und Buchhandelssterben haben bei Vandenhoeck & Ruprecht Spuren hinterlassen – in der Programmplanung, in der Kundenansprache, in der Verlagsorganisation. Carola Müller über ein Jahrzehnt voller Veränderungen, das den Verlag zukunftsfähig gemacht hat. 

Sie sind als erste externe Geschäftsführerin zehn Jahre im Amt. Was waren die wichtigsten Entwicklungen in dieser Zeit?
Es gab drei wichtige Entwicklungen, auf die wir reagiert haben: ein rasantes Buchhandelssterben in den vergangenen zehn Jahren, ein ebenso rasantes Druckereisterben und die Digitalisierung der kompletten Lebenswelt. Das hat mehr als drei Veränderungen hier im Haus verursacht.

Hat das Buchhandelssterben Ihre Vertriebskraft geschwächt?
Die Entwicklung im Buchhandel hat sich stark auf das gesamte Unternehmen ausgewirkt. Ich fange mal mit Erwartungen an, die nicht aufgegangen sind. Angesichts der Konzentration im Buchmarkt waren wir zu der Überzeugung gelangt, es würde uns durch eine Veränderung unserer vertrieblichen Aufstellung, durch Rationalisierung und Bündelung, gelingen, unsere Präsenz im sich verändernden Buchhandel zu halten. Das war ein Trugschluss. Wir hatten dafür viel geopfert, die eigene Auslieferung geschlossen, was damals durchaus die richtige Entscheidung war; wir hatten teil an der Vertriebskooperation UTB:forum – in der Hoffnung, unser Regal in den Buchhandlungen zu vergrößern; und wir versuchten, aus eigener Kraft aus dem akademischen Programm heraus ein wissenschaftliches Sachbuchprogramm zu entwickeln, um dem Trend, aus dem Buchhandel zu verschwinden, entgegenzuwirken. Dies alles ist nicht aufgegangen und hat uns unterm Strich eine Menge Zeit und Kraft gekostet – und auch Geld. 2005 bis 2010 war das ein Schwerpunkt unserer Arbeit.

Das wissenschaftliche Sachbuch war also eine Sackgasse ...
Es ist bei uns nicht einmal richtig sichtbar geworden. Mit dem Kauf der Lizenz für den »Großen Ploetz« wollten wir ein Schwergewicht ins Programm holen, um damit klarzumachen: Wir können auch wissenschaftliches Sachbuch. Die Verhandlungen über die Lizenz haben aber so lange gedauert, dass wir beim Start 2008 gedacht haben, der Zeitpunkt könnte verpasst sein, um noch mit einer Lexikon­substanz an den Markt zu gehen. Mit dem Titel selbst haben wir ein gutes Geschäft gemacht, aber die Hoffnung, aus dieser Marke heraus unser Sachbuchprogramm zu ergänzen – dazu war Wikipedia schon viel zu weit. Als wir erkannt haben, dass ein Sachbuch­programm nicht ohne größere zusätzliche Investitionen zu realisieren ist, haben wir den Plan nicht weiterverfolgt. Es hilft wirklich nur eins: fokussieren auf klar einzugrenzende Zielgruppen, auf Zielgruppen, die für uns erreichbar sind, auch wenn der Buchhandel als Kommunikationskanal nicht mehr in der Form zur Verfügung steht, wie wir es 270 Jahre lang gewohnt waren.

Welche Zielgruppen sind das?
Berufspraktiker, Wissenschaftler, Forscher und Studenten, die Literatur für ihre Arbeit benötigen. Und das zeitigt gute Ergebnisse. Gleichzeitig haben wir unsere Marke differenziert in V & R, das für Psychologie, Schulbuch, Pädagogik und Gemeindeliteratur steht, und in V & R Academic, das für Lehrbuch und Forschungsliteratur steht und auch international ausgerichtet ist. Unter diesem Label arbeiten unsere Geisteswissenschaften und die Theo­logie sowie unser Tochterverlag V & R Unipress zusammen. Auch bei Schul­büchern konzentrieren wir uns auf die beiden Fächer, bei denen wir einen direkten Zugang zu den Fachzielgruppen haben: Religion und Latein. Unser neues Latein-Unterrichtswerk »Viva« haben wir mit einem völlig neuen Konzept gestartet, das durch eine digitale Variante ergänzt wird.

Sie haben auch andere Bereiche wie die Psychologie ausgebaut ...
Dort sind wir unter anderem mit der Zeitschrift »Leidfaden« und dem daraus entwickelten Buchsegment in die Trauerbegleitung eingestiegen – ein Thema, das immer wichtiger wird und eine inhaltliche Nähe zum Theologie- und Gemeindeprogramm hat, in dem es vielfach um die Begleitung von Menschen in schwierigen Lebenssituationen geht. Wir können so auch neben den Therapeuten die Zielgruppe der Pfarrer und Trauerbegleiter ansprechen.

Fokussierung auf Kernthemen ist Ihnen sehr wichtig. Haben Sie den Eindruck, dass Verlage insgesamt ihre Titel bewusster planen?
Wir fragen uns auch bei guten Büchern immer, ob diese in unser Programm und damit auch in unsere Vertriebskommunikation passen. Ist das nicht so, wissen wir, dass der Titel bei uns ein Flop wird – auch wenn er inhaltlich noch so interessant ist. Wir machen zwar immer noch 70 Prozent unseres Umsatzes im Buchhandel, doch um die Kommunikation mit dem Endkunden kümmern wir uns sehr viel stärker selbst als früher – weil wir wissen, dass wir nicht mehr im Regal stehen.

Wie erreichen Sie dann die Kunden?
Der Vertrieb funktioniert heute ganz anders. Die Digitalisierung der Lebenswelt bedeutet für uns, dass wir mit den Kunden verstärkt über das Internet kommunizieren. Das ist für uns eine Riesenchance, weil wir nur so für 400 Novitäten im Jahr wirklich qualifizierte Vertriebsarbeit leisten und zugleich für 6 000 Backlisttitel aktiv sein können – durch ständige Pflege und Anreicherung der Metadaten sowie die Anbindung an neue Plattformen, um die Titel optimal sichtbar zu machen. Daneben versuchen wir durch Öffentlichkeits­arbeit, Veranstaltungen mit den Autoren oder auf Kongressen Aufmerksamkeit für unser Programm zu erzeugen.

Wie entwickelt sich denn der Online-Buchverkauf?
Amazon ist einige Jahre stürmisch gewachsen und verharrt jetzt auf ansehnlichem Niveau. Besonders zufrieden sind wir mit unserem eigenen Webshop. Der ist mittlerweile unser viertgrößter Handelskunde – nach den Barsortimenten und Amazon. Aber dafür mit steigenden Zahlen.

Hat die Digitalisierung den Verlag komplett verändert?
Ja. Als ich 2005 hier anfing, hatte noch niemand von uns ein E-Book komplett gelesen oder ein Lesegerät länger in der Hand gehabt. Heute produzieren wir jedes Buch – sofern wir die Rechte dafür bekommen – in drei digitalen Formaten und in gedruckter Form. Zugleich experimentieren wir mit Kombiprodukten und verkaufen Inhalte auch auf Kapitel- oder Aufsatzebene. Wir haben ein Open-Access-Modell für Bücher und Zeitschriften entwickelt, und über Booktex bieten wir für erste Titel die Lizenzierung einzelner Seiten für Semesterapparate an. Dadurch haben sich alle Arbeitsprozesse verändert.

Könnten Sie sich digitale Reader mit individuell ausgewählten Inhalten vorstellen?
Durchaus, die Technik dafür hätten wir bereits. In den vergangenen zehn Jahren haben wir es gelernt, IT-Projekte im Verlag souverän zu managen. Und wir wissen, dass das ein ständiger Prozess bleiben wird. Wir müssen jedes Jahr mindestens eine Komponente unserer IT-Infrastruktur erneuern und betrachten das als strategische Investition.

Interview: Michael Roesler-Graichen

Vandenhoeck & Ruprecht
Gegründet: 1735 von Abraham Vandenhoeck
Schwerpunkte: Psychologie, Theologie, Geisteswissenschaften, Schule & Bildung, Gemeindeliteratur
Gesellschafter: Familie Ruprecht
Geschäftsführerin: Carola Müller (seit 2005)
Mitarbeiter: 54
Novitäten / Backlist: 350 / 6 000 Titel