Jochen Jung über Urlaubslektüre

"Auch 'Der Mann ohne Eigenschaften' ist sehr unterhaltsam"

21. Juli 2017
von Börsenblatt
Der Verleger Jochen Jung hält es für ein Missverständnis, den Menschen für die kostbaren Zeiten ihrer Erholung nicht auch anspruchsvolle, umfangreiche Bücher mitzugeben – sie können sehr unterhaltend sein.

Schön wär’s, wenn die Menschen fürs Lesen ein ebenso offenes Ohr hätten, wie sie es fürs Essen haben, wo sie sich offenbar nicht wirklich belästigt fühlen, wenn Ihnen nicht nur gesagt wird, was schmecken könnte, sondern vor allem, was sie auf keinen Fall zu sich nehmen sollten, wenn sie nicht an Überzuckerung oder Verfettung eingehen wollen. (Manchmal frage ich mich tatsächlich, wie sich eine Menschheit derart vermehren konnte, obwohl sie nicht die geringste Ahnung von Cholesterin oder jenen Fettsäuren hatte, die so ungesättigt waren wie sie selbst.)

Ich gebe zu, dass mir der Begriff Urlaubslektüre manchmal so ähnlich vorkommt wie Jugendbuch: Irgendwer weiß anscheinend genau, was das Beste für den unbekannten Leser wäre in der schönsten Zeit des Jahres (Weihnachten ist das ja nur noch für den Buchhandel!), in der sich der von der Arbeit ruinierte Mensch durch Erholung neu einsatzfähig macht. Es heißt, man solle sich im Urlaub nicht zu sehr anstrengen, offenbar auch beim Lesen nicht (als ob etwa Bergsteigen und Schwimmen nicht megaanstrengend sein könnten!). Ich protes­tiere hier auch nicht gegen die heitere, sogenannte entspannende Ferienlektüre, höchstens gegen die Einschätzung des Lesers, dem man nicht zu viel zumuten möchte (vulgo: zutraut).

Ich werde hier gewiss niemandem Vorschriften machen, käme auch nie auf die Idee, jemandem Faust II in den Reisekoffer zu legen; aber es gibt Bücher, deren "schlechter" Ruf die Leute seit Ewigkeiten von der Lektüre abschreckt, obwohl sie durchaus sehr unterhaltend sind ("Krieg und Frieden" etwa oder "Der Mann ohne Eigenschaften", beide sehr umfangreich). Früher war ja mal der Umfang ein Makel, aber in einer Zeit, in der die Romane immer dicker werden, ist das doch fast eine Empfehlung. In schlimmen Zeiten wie diesen unsrigen sind Krimis und Thriller offenbar das Wenigste, wenn man seine eigene Welt in der Literatur wiedererkennen soll. Und die Welt der meisten Leute tut offenbar entschieden harmloser, als sie in Wirklichkeit ist. Das war allerdings schon bei Adalbert Stifter so.

Ansonsten ist Urlaub aber auch, sich auf einem Stuhl oder Liegemöbel, das Glas in Griffnähe (Wasser natürlich), sich selbst zu überlassen und dem, was der nicht beschäftigte Mensch so wahrnimmt: Licht und Schatten, Luftzug, Farben und Vogelgezwitscher, erstaunlich freundlichen Nachbarn, fernen Verkehrsgeräuschen und dem eigenen Kopf, dem man bei seinen Erinnerungsgeschichten und primitiven Alltagsassoziationen einfach mal zuhört. Auch wenn man ihn nicht in allen Einzelheiten begreift.

Dann kann es manchmal so sein wie im Meer, wenn man auf dem Rücken liegt, alle Viere von sich gestreckt, und nur noch tief Luft holt. Und wenn dann die Ohren unter Wasser sind, dann hört man auf einmal das Rollen der Steine am Meeresgrund wie eine schwer verständliche, aber beruhigende Botschaft aus frühen Zeiten, in denen man auch schon dabei war. Von so etwas reden bisweilen Gedichte.