Kindermedienkongress in München

"Gehirne von Kindern profitieren nicht von E-Books"

20. Juli 2015
von Nicola Bardola
Beim 4. Kindermedienkongress der Akademie des Deutschen Buchhandels traf gestern die vorsichtige Welt der Wissenschaft auf den Spieltrieb der E-Verleger. Neben der Frage, wie Kindermedien transmedial konzipiert und vermarktet werden, waren die 60 Zuhörer vor allem aus Verlagen kräftig am Netzwerken.
Mancher der Kongressteilnehmer wurde recht nachdenklich nach der Keynote von Prof. Dieter F. Braus, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an den Schmidt Kliniken in Wiesbaden. Der Mediziner führte in seinem Vortrag über "Hirnentwicklung, Stress und Medien – Welche Faktoren strukturieren das kindliche Gehirn?" aus, dass kindliches Lernen und die digitale Revolution nicht zusammenpassen. "Die digitalen Medien haben für Kinder im Alter bis zu zwei Jahren nur negative Effekte. Mehr Stimulation hilft hier nicht", sagte Braus. Dass übermäßiger Handygebrauch bei Jugendlichen Effekte auf Gehirnfunktionen hat, belegte Braus mit zahlreichen Studien und folgerte, dass sämtliche digitalen Aktivitäten bei Kindern supervidiert werden müssten.

Braus schonte auch nicht die E-Books: "Gesunde Gehirne von Kindern profitieren nicht von E-Books. Nur Kinder mit leichten Lesestörungen können aus E-Books Vorteile ziehen, weil man durch größere Abstände zwischen den Buchstaben das Lesen signifikant erleichtern kann." In der im Anschluss geführten Diskussion betonte Braus, dass elektronische Medien kleinen Kindern nichts bringen. "Apps für Kinder bis zum dritten Schuljahr sind vollkommen unnötig und wahrscheinlich eher schädlich als nützlich. Im Segment '0 bis 9. Lebensjahr' muss die Devise lauten: Wir brauchen keine digitalen Medien. Die Grundschulen verlangen dementsprechend auch nicht von ihren Kindern Internetrecherchen. In der Pubertät kann man dann aber durchaus Kinder dank guter Apps leichter ans Lesen heranführen. Also: Erste Apps erst ab dem neunten oder zehnten Lebensjahr", forderte Braus die verdutzten Kongressteilnehmer auf. Dementsprechend zweifelte Braus beispielsweise auch den Nutzen des Leselernprogramms Antolin an, das ja explizit für die Grundschule konzipiert wurde. Auch der Moderator und Geschäftsführer von Iconkids & Youth Axel Dammler irritierte mit seinem daran anschließenden Vortrag, indem er provozierte: "Vergessen Sie Facebook. Facebook stirbt aus."

Verlagsberaterin Louise Carleton-Gertsch wies hingegen auf die sich ändernden Nutzererfahrungen hin. "Ich habe überlegt, ob ich nach dem Keyword diese App überhaupt noch zeigen darf", kommentierte sie "Big Bird’s Word" von Sesame Street (89 Cent), bei der man mittels der Kamera im Smartphone lernt, Wörter im Alltag zu erkennen. Nach ersten Untersuchungen des Anbieters Sesame Street sind Kinder dank dieser App um 40 Prozent besser beim Identifizieren von Zielwörtern als Kinder, die nicht mit dieser App spielen. "Kinder, die in den Lernprozess miteinbezogen werden, sind erfolgreicher", so Carleton-Gertsch. Das praktische Beispiel von "augmented reality" zum Lesenlernen erzeugte die bei diesem Kongress gewohnt zuversichtliche multimediale Avantgarde-Stimmung.

Die globale Welt hatten auch Anja Brauseneick und Sabrina Glodde (Boje und Bastei Lübbe) im Blick, die "Das Supertalentier" vorstellten, eine Spiele-App rund um das Käfermädchen Luna, die u.a. auch in Mandarin veröffentlicht ist. "Wir haben mit früheren Apps gute Erfahrungen in China gemacht. Die Tendenz der Absätze ist steigend", so Glodde. Volker Busch (Egmont) zeigte anschaulich, wie am grünen Tisch die Marke "Prinzessin Emmy und ihre Pferde" entstanden ist. Zu den vielen Verwertungungsstufen kommt in drei Jahren ein Kinofilm hinzu. Bemerkenswert: Einige Emmy-Bücher erscheinen in Lizenz im Nelson Verlag, der zu Carlsen gehört. Dort feiert Conni Edutainment mit Interaktivität als Produktkern Erfolge, so Mareike Hermes vom Carlsen Business Development.

Was es mit TigerCreate auf sich hat, stellte Christina Kumpmann (Oetinger) den Kongressteilnehmern vor. Sie betonte, dass sich mit Hilfe des Programms TigerCreate rasch und kostengünstig interaktive Kinder- und Jugendbücher für alle relevanten Plattformen entwickeln ließen. Dieses neue Werkzeug könnte bald dazu führen, dass aus sehr vielen gedruckten Bilderbüchern animierte Geschichten zum Mitmachen werden. Kumpann berichtete zudem von der Integration von Social-Media-Funktionen in enhanced E-Books. Aus E-Bilderbüchern werden direkt E-Postkarten via Mail oder Facebook mit beliebten Motiven verschickt; Chats zum Buch werden z.B. via Lovelybooks in das E-Book eingebunden. Solch witzige Innovationen werden verstärkt auf den Markt drängen, auch wenn die Psychiatrie auf deren Nutzlosigkeit hinweist.