Kommentar von Michael Roesler-Graichen

Sagbares und Unsägliches

4. November 2015
von Börsenblatt
Der Streit um Akif Pirinccis "KZ"-Äußerung, in den auch das Börsenblatt wegen einer Anzeige für Pirinccis neues Buch "Die große Verschwulung" hineingezogen wurde, ist vor allem ein Streit um die Grenzen der Meinungsäußerung.

Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Sie ist ein so hohes Gut, dass Voltaire einmal bekannt haben soll: "Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst." Auch wenn nicht Voltaire diesen Satz geprägt hat, sondern seine englische Biographin Evelyn Beatrice Hall, eignet er sich doch als Formel zur Charakterisierung dessen, was Meinungsfreiheit bedeutet. Sie umfasst nicht nur das Recht des einzelnen zu sagen, was er denkt, sondern auch die Souveränität, die Meinung des anderen auszuhalten – und sei sie noch so abwegig, die Vernunft beleidigend, tabuverletzend oder diskriminierend. Meinungsfreiheit ist, in Anlehnung an Rosa Luxemburg, immer Meinungsfreiheit des anders Denkenden.

Doch es gibt Grenzen: Die Meinungsfreiheit (Art. 5 Grundgesetz) gilt nicht absolut und steht nicht isoliert in unserer Verfassung. Sie ist Teil des Grundrechtskatalogs, der auf ein Prinzip verpflichtet ist, an dem sich nicht rütteln lässt: die unantastbare Würde des Menschen (Art. 1). Jede Meinungsbekundung, die dieses eherne Gebot mit Füßen tritt, überschreitet also eine Grenze und kompromittiert den, der sie äußert.

Wann ist das zivilisatorische Minimum, das Christian Geyer in der "FAZ" thematisiert hat, unterschritten? Eindeutig im Fall der Holocaustleugnung, die das Bundesverfassungsgericht nicht durch die Meinungsfreiheit gedeckt sieht. Paragraf 130 StGB Absatz 3 stellt sie ausdrücklich unter Strafe (wer Taten, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangen wurden, "in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost", kann mit bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug bestraft werden). Ob auch die "KZ-Äußerung" Pirinccis, die sich auf die Kritiker der Flüchtlingspolitik bezog, unter den Tatbestand fällt, wird derzeit ermittelt. Einige Medien hatten zunächst fälschlicherweise behauptet, Pirincci habe sich auf Flüchtlinge bezogen – was nicht stimmt, und weshalb sie sich nun zum Widerruf genötigt sehen. Pirincci selbst hat Anwälte beauftragt, die nun Zeitungen und Rundfunkanstalten abmahnen.

Doch selbst wenn sich der Verdacht wegen der bei Pegida gefallenen Äußerungen nicht erhärtet, pervertiert Pirincci die Vorstellung, die mit dem Betrieb von Konzentrationslagern verbunden ist. In der politisch motivierten Ummünzung eines Begriffs, der zum Synonym für die Verfolgungs- und Vernichtungspraxis des NS-Regimes geworden ist, besteht das eigentliche Skandalon. Pirincci stellt die historischen Tatsachen auf den Kopf, indem er Flüchtlingskritiker zu Opfern stempelt, und einer Regierung, die das Grundrecht auf Asyl schützt, im Irrealis zutraut, Konzentrationslager wieder in Betrieb nehmen zu können. (In diese verquere Logik passt dann auch der an Bundesjustizminister Heiko Maas adressierte Goebbels-Vergleich des Pegida-Mitbegründers Lutz Bachmann.)

Solche Provokationen sind auf Beifall bedacht, sie wirken als Zungenlöser und Mittel der Enthemmung. Und sie eignen sich in hervorragender Weise zur Verdrängung oder Leugnung der eigenen Gesinnung, die die plurale Gesellschaft, wie sie sich auf dem Boden des Grundgesetzes entfaltet hat, angreift und stattdessen die „Homogenität" des Staatsvolks und seiner angestammten Kultur- und Wertevorstellungen einfordert. In vielen Köpfen ist eine Parallelwelt lebendig, die mit völkischen, anti-emanzipatorischen, islamfeindlichen, homophoben und antisemitischen Versatzstücken bestückt ist und sich nun immer lauter Gehör verschafft – wenn sie nicht gleich in spontanen „Notwehr"-Aktionen (gegen Flüchtlinge und Journalisten) zur „Tat" schreitet. Dies alles steht der Freiheit des Grundgesetzes, der freien Entfaltung der Persönlichkeit und der Freiheit, seinen individuellen Lebensstil zu wählen, fundamental entgegen. Es ist zugleich eine Absage an die offene Gesellschaft und an die Demokratie. Wer Feindbild-Begriffe wie „System", „Volksverräter" oder „Lügenpresse" im Munde führt, greift in eine rechte Propagandakiste, aus der sich auch die Nazis bedient haben. Wer hassgeladene Vokabeln salonfähig macht, und symbolische Galgen für Regierungsmitglieder duldet, vergiftet nicht nur das politische Klima, sondern ist auch ein Zündler, der (rhetorisch) mit dem Feuer spielt, das andere (real) legen.

Diesen Kontext muss man sich vor Augen halten, wenn man die Reaktion der Buchbranche auf Pirinccis Äußerungen einordnen will. Die Kündigung seiner Verlagsverträge und die komplette Auslistung seiner Bücher mag ja einigen Kritikern überzogen erscheinen, von Thor Kunkel in der rechtsgerichteten „Jungen Freiheit" und von Akif Pirincci selbst sogar als „Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz" gebrandmarkt werden. Wolfgang Tischer (Literaturcafe.de) zeiht die Verlagsgruppe Random House zudem der Doppelzüngigkeit, weil sie die harmlosen Katzen-Krimis von Pirincci auslistet, dafür aber an Thilo Sarrazins Büchern weiterhin „ordentlich verdient".

Doch im Gegensatz zu Sarrazin hat der „Deutschland-von-Sinnen"-Autor mit seinem Pegida-Auftritt eine rote Linie überschritten: die zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen. Kein Verlag in Deutschland kann dazu gezwungen werden, eine Vertragsbeziehung mit einem Partner fortzuführen, dessen Äußerungen das friedliche Zusammenleben der Gesellschaft untergraben. So kann auch eine rechtsextreme Partei nicht verlangen, dass ein privater Unternehmer mit ihr einen Mietvertrag über die Nutzung eines Veranstaltungsraums abschließt. In ähnlicher Weise gilt dies auch für ein Anzeigengeschäft: Kein Verlag muss eine Anzeige zum Abdruck annehmen, deren Inhalt Grundwerte einer pluralen Gesellschaft wie das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verletzt. Ein Kontrahierungszwang, wie er etwa für Wasserwerke gilt, besteht hier nicht. Die Vertragsfreiheit schließt übrigens auch die Freiheit ein, einmal geschlossene Verträge aus wichtigem Grund wieder aufzuheben. Niemand hindert Akif Pirincci daran, es mit einem anderen Verleger zu versuchen oder unter die Selfpublisher zu gehen.

Vollkommen unsinnig wäre es nun, bei der Ablehnung einer Anzeige von Zensur zu sprechen, wie dies auch in Kommentaren auf boersenblatt.net zu lesen ist. Zensur im klassischen Sinne setzt eine staatliche Kontrollbehörde voraus, die Veröffentlichungsverbote ausspricht. Diese gibt es in Deutschland nicht. Es gibt allerdings Einzelfälle, in denen zensurähnliche Praktiken ausgeübt werden – die aber in der Regel im Nachhinein von Gerichten untersagt werden. Ein aktuelles Beispiel ist das vom Bundesinnenministerium verhängte Vertriebsverbot für ein wirtschaftskritisches Schulbuch, das bei der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) erhältlich war. Nachdem der Wissenschaftliche Beirat der BPB das Buch für unbedenklich erklärt hatte, wurde das Vertriebsverbot wieder aufgehoben.

Am Ende geht es also immer um die Balance zwischen dem, was eine freie Gesellschaft an Abweichung und Widerspruch ertragen kann, und dem, was aus guten (auch historischen) Gründen nicht zu sagen ist. Die Büchse der Pandora möge verschlossen bleiben.