Kommentar zur Programmpolitik von Patrick Sielemann

"Alle fischen im selben Teich"

23. Oktober 2017
von Börsenblatt
Verlage wollen das Unmögliche, nämlich zugleich einzigartig sein und die breite Masse ansprechen, meint Kein & Aber-Lektor Patrick Sielemann. Zwischen diesen beiden Polen, würden die Verlage sich für programmatischen Konsens entscheiden − und heraus komme Einheitsbrei.

Wie ein Mantra sprach Kanzlerkandidat Martin Schulz während des Wahlkampfs davon, mit seinem Parteiprogramm "klare Kante" zu zeigen. Je häufiger er das betonte, desto weniger gelang es ihm offenbar. Für die meisten Wähler war nicht klar, worin sich das Programm der SPD von dem der CDU unterschied. Einer der Gründe für das schlechte Wahlergebnis.

Der Wunsch von Martin Schulz ist vergleichbar mit dem vieler Verlage: ein Programm an den Mann zu bringen, das einerseits Charakter hat und einen Wiedererkennungswert, andererseits aber auch so viele Menschen wie möglich anspricht. Also auf Konsens setzt. Dies zu erreichen, scheint in der Welt der Politik wie in der Welt der Verlage wie ein Paradoxon: Einerseits möchte man Aufsehen erregen, einzigartig sein und unverwechselbar. Andererseits ist es fast unmöglich, mit diesen Eigenschaften die breite Masse anzusprechen.

Das Resultat: Immer mehr Verlage entscheiden sich zwischen diesen beiden Polen und wählen den programmatischen Konsens. Gesucht werden vorwiegend Romane, die unterhaltsam sind und gleichzeitig mehrschichtig. Die als Easy Read funktionieren, aber auch genug Gesprächsstoff fürs Feuilleton oder wenigstens für einen Lesezirkel bieten. Man will sich nicht schämen, aber man muss schon Geld damit verdienen.

In Interviews mit Verlegern hörte sich das zuletzt oft so an: "Die Ullstein-Mitarbeiter möchten sich stärker in der Belletristik engagieren, gezielt auf verkäufliche Qualität setzen, und das will ich auch", sagt der neue Ullstein-Verleger Gunnar Cynybulk auf boersenblatt.net. "Das gute alte Storytelling mit Niveau ist das, was mich interessiert", sagt auch Daniel Kampa, ehemals Verleger von HoCa und nun Gründer seines eigenen Verlags im Gespräch mit boersenblatt.net, und stellt dem das Diogenes-Credo von Voltaire voran: "Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur die langweilige nicht."

Man findet viele dieser Aussagen. Wenn man versucht, ein Verlagsprogramm in einem Satz zusammenzufassen, wird daraus wahrscheinlich zwangsläufig so etwas daraus. Und natürlich findet man auch in fast jedem Programm Ausnahmen, die diesem Trend zu widersprechen scheinen: Bände von Kurzgeschichten, Gedichte, Romane mit als "schwierig" geltenden Themen oder aus weniger hippen Kulturkreisen. Ja, es gibt sie auch noch, ganze Verlagsprogramme mit "klarer Kante", mit Konturen, die sich deutlich von denen anderer Verlage abzeichnen. Doch das sind meist kleinere, unabhängige Häuser: Secession, Wagenbach, Unionsverlag, Voland & Quist, man kann diese Liste beliebig weiterführen. Die Big Player findet man nicht darunter.

Die nämlich suchen mehrheitlich die gleichen Bücher: Zugänglich sollen sie sein, aber natürlich auch mehrschichtig, berührend und im besten Fall noch lustig, sie sollen likeable Hauptfiguren haben und in einem Satz schmackhaft zusammenzufassen sein. Die Verlage verlieren allmählich ihre Alleinstellungsmerkmale und gleichen sich immer mehr einander an: Ullstein und Piper werden literarischer, Hanser und Suhrkamp werden kommerzieller, alle fischen im selben Teich, wo ist der gute alte Streit zwischen E und U?

Diese Entwicklung ist auch eine Folge wirtschaftlichen Drucks, dem viele Verlage ausgesetzt sind. Es braucht sie, die großen Erfolge, um zu überleben. Ein Verlangen, das – besonders in den Wochen um die Buchmesse herum – auch gespeist wird von Agenten, die nichts gegen diese Entwicklung haben: Je mehr Verlage das gleiche Buch wollen, desto höher bieten sie sich. Dass sich mindestens fünf Verlage um den gleichen Titel streiten, ist Normalität geworden. Zuweilen sind es sogar mehr als zehn. Die deutsche Verlagslandschaft verkommt zumindest in der Belletristik immer mehr zu einem Einheitsbrei. Und das schadet im Endeffekt allen Beteiligten: den Autoren, die sich nicht verstellen möchten, um gelesen zu werden. Dem Buchhandel, dessen Beratung überflüssig wird, wenn sich die Bücher kaum mehr unterscheiden. Dem Leser, der immer länger suchen muss, um überrascht zu werden. Den Verlagen, die immer stärker in Wettbewerb zueinander treten.

Wie richtet man sein Verlagsprogramm also aus, dass es einerseits viel Beachtung findet, andererseits aber einen eigenen Charakter aufweist? Wenn man sich das allgemeine Einkaufverhalten deutscher Verlage auch während der diesjährigen Frankfurter Messe anschaut, scheint es nicht mehr möglich zu sein, beides zu gewährleisten: Entweder man sucht nach den Autoren und Büchern, die der Markt angeblich fordert. Oder man setzt auf Literatur, die dem Verlag ein unverwechselbares Gesicht gibt.

Es wäre nicht seriös, die Verkäuflichkeit eines Titels auszublenden und nur auf die vermeintliche literarische Qualität zu setzen. Es gibt nicht wenige Verlage, die an ihren hehren Zielen letztlich scheitern. Doch bei der Ausrichtung eines Verlagsprogramms vergisst man leicht, wie groß der Markt der potenziellen Leser eigentlich ist. Dass viele Verlage anscheinend nur noch eine Art Leser vor Augen haben, zeugt von dreierlei: von mangelnder Fantasie, von mangelndem Idealismus, von mangelndem Mut. Warum heißt es, man suche nach Literatur, die gut verkäuflich ist? Ist es nicht viel eher Aufgabe eines Verlags, gute Literatur zu verlegen, und dann die Leser dafür zu finden? Leser, die nicht täglich in Buchhandlungen gehen oder das Feuilleton studieren oder Buchmessen besuchen? Der Markt ist riesig und vielfältig und sollte auch so bespielt werden.

Für Verlage wäre ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma, indem er zur Marke wird. Das Profil, das viele Verlage derzeit zu verwischen bereit sind, ist das größte Pfund im Wettbewerb mit anderen Verlagen, aber auch im Wettbewerb mit dem Phänomen Selfpublishing und bei Verhandlungen mit allen möglichen Geschäftspartnern. Die Eigenschaft, eine Marke zu werden, wohnt dem Wesen eines jeden seriösen Unternehmens per se inne, aber bei Verlagen rückt sie komischerweise oft in den Hintergrund: "Es gibt den großen, schönen Teich, in dem wir alle schwimmen und in dem die Inseln Verlagsnamen tragen. Die Leute, die am Ufer stehen, sagen allerdings nur: Das ist ein schöner See, da will ich baden. Um die Namensschilder kümmern sie sich nicht", sagte Hanser-Verleger Jo Lendle im April in einem Interview. Das ist keine falsche Beobachtung. Aber genau darin liegt eine verpasste Möglichkeit: Mit einem Namensschild – der Marke – kann man Buchhändler und Leser an einen Verlag binden und so auch zu Büchern führen, die jenseits des allgemeinen Einvernehmens liegen. Denn wer einmal in die Qualität einer Marke vertraut, wird auch weiterhin deren Produkte kaufen. Selbst wenn sie sich in unbekanntere Gewässer wagen, vielleicht sogar den "großen, schönen Teich" verlassen, um Neues auszuprobieren.

Wenn sie im besten Schulzschen Sinne mehr Ecken und Kanten haben.

Patrick Sielemann, Jahrgang 1982, arbeitete bei Literaturagenturen, bevor er auf die Verlagsseite wechselte. Seit 2012 ist er Lektor beim Kein & Aber Verlag, wo er die deutschsprachige und internationale Belletristik sowie das Taschenbuchprogramm betreut.