Leipziger Buchmesse

Interview mit Martin Pollack

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Mit dem Schwerpunkt "Tranzyt. Literatur aus Polen, der Ukraine und Belarus" rückt die Leipziger Buchmesse eine reiche, hierzulande erst in Ansätzen bekannte Literaturlandschaft in den Fokus. boersenblatt.net sprach mit Kurator Martin Pollack über die Ziele und Möglichkeiten von Tranzyt.

Herr Pollack, vor zwölf Monaten haben Sie im Leipziger Gewandhaus als Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung leidenschaftlich dafür geworben, den Werken von Schriftstellern "auf der anderen Seite Europas" alle Türen zu öffnen. Jetzt kehren Sie als Kurator mit einer ganzen Autoren-Riege aus Ostmitteleuropa zurück. Staunen Sie selbst über diese Entwicklung?
Das ist gewisser Maßen der Fluch der guten Tat. Im Ernst: Es ist harte Arbeit gewesen, neben meiner Tätigkeit als Übersetzer und Schriftsteller. Aber eben auch ein beglückendes Gefühl, mithelfen zu können, die Aufmerksamkeit auf die ungeheuer vielfältige Literaturszene dieser Länder zu lenken. Literatur scheint wie kein anderes Medium geeignet, die Wirklichkeiten in diesen Ländern in ihrer ganzen Vielschichtigkeit – und auch Widersprüchlichkeit – fassbar zu machen. Wir haben viele Lücken zu füllen.

Zum Beispiel?
Eine im deutschsprachigen Raum weitgehend ignorierte Besonderheit der ukrainischen Literatur besteht darin, dass es neben ukrainischsprachigen auch russischsprachige Autoren gibt, die sich als Ukrainer empfinden und ukrainische Themen behandeln. Im Westen kennt man nur Andrej Kurkow, was nicht heißt, dass es nicht auch andere interessante Autoren gibt. Wir hoffen, dass etablierte Namen wie Juri Andruchowytsch oder Swetlana Alexijewitsch, aber auch kundige Übersetzer und Lektoren wie Thomas Weiler, Olaf Kühl oder Katharina Raabe auch bislang unbekannten Gegenwartsautoren den Weg in den deutschen Sprachraum ebnen können. 

Polnische Literatur spielte hierzulande schon vor 1989 eine gewichte Rolle, jene aus den postsowjetischen Staaten Ukraine und Belarus ist nur in Ansätzen bekannt. Warum ein gemeinsamer Programmschwerpunkt?
Die Literaturszenen der drei Länder sind untereinander teilweise sehr gut vernetzt. Vor allem in Polen gibt es eine Reihe von Institutionen, Zeitschriften und Verlagen, aber auch engagierte Autoren und Übersetzer, die sich eine Verständigung über die Grenzen hinweg zur Aufgabe gemacht haben. Die polnisch-ukrainisch-deutsche Literaturzeitschrift "Radar" aus Krakau wäre da zu nennen, die ebenfalls dort angesiedelte Villa Decius oder der Verlag Czarne von Monika Sznajderman und Andrzej Stasiuk. Auf solchen Netzwerken konnten wir aufbauen.

Unsere Aufmerksamkeit fokussiert sich auf politische Vorgänge, die alles andere überschatten...
Es ist ein großes Missverständnis, wenn literarische Texte, selbst Gedichte, nur auf Kritik am politischen System hin abgesucht werden. So werden Autoren in die Rolle von politischen Kommentatoren gedrängt. Wir neigen zu solchen Vereinfachungen, weil wir die Literatur zu wenig kennen. Damit entgeht uns viel, es macht uns als Leser ärmer. 

Thematisch reicht das Programm von Lyrik und Poetry Slam bis zum Fußball, ein Pflichtpunkt im EM-Jahr. Worauf freuen Sie sich am meisten?
Schwer zu sagen, man wird ja schnell ungerecht, wenn man sein "Lieblingskind" nennt. Die historischen Aspekte finde ich natürlich immer sehr spannend. Das mag daher kommen, weil man in diesen Ländern vielleicht noch mehr mit der Geschichte lebt als bei uns. Aber es wird das ganze Spektrum zu erleben sein: Wir haben uns bemüht, den Blick nicht zu verengen, um Neugierde zu wecken.

Wie geht es weiter, nachdem die Messehallen in Leipzig schließen? Zurück zur Tagesordnung?
Nein. Das ist ja der Sinn so einer Unternehmung: Dass man nicht nur das Publikum neugierig macht, sondern auch die professionelle Welt. Dass man sagt: Da ist ein großartiger Autor! Schaut ihn euch an, setzt euch zusammen! Ich hoffe, dass wir etwas Nachhaltiges bewirken können.   

 

Martin Pollack, 1944 im oberösterreichischen Bad Hall geboren, studierte Geschichte und osteuropäische Slawistik. Von 1987 bis 1989 war er Redakteur des "Spiegel" in Wien und Warschau. Seiher ist er als freier Autor und Übersetzer, unter anderem der Werke Ryszard Kapuścińskis, tätig. Für sein Buch "Kaiser von Amerika" (Zsolnay 2010) erhielt er 2011 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.

tranzyt. Literatur aus Polen, der Ukraine und Belarus: 15. bis 18. März

Leipzig liest. Forum OstSüdOst, Halle 4, Stand E 505

Café Europa, Halle 4, Stand E 401

Pünktlich zur Messe erscheinen die Zeitschriften "Literatur & Kritik" (Salzburg) und "Radar" (Krakau) jeweils mit einem Belarus-Schwerpunkt:
Literatur und Kritik. Nr. 461/462 (März 2012). Hrsg. von Karl-Markus Gauß. Mit einem Dossier "Literatur aus Belarus", hrsg. von Martin Pollack u. Thomas Weiler. Verlag Otto Müller, Salzburg 2012.