Lesefestival Stadt Land Buch

Finale mit einer großartigen Herta Müller

23. November 2015
von Börsenblatt
Stadt Land Buch war in diesem Jahr von den Schreckensnachrichten aus Paris, den Terrorwarnungen in Hannover und Brüssel überschattet. Trotzdem kamen wieder 8.000 Besucher zu dem Berliner Festival (15. bis 22. November), das gestern mit einer bewegenden Veranstaltung zum Thema Flucht und Vertreibung zu Ende ging.

Fünf Autoren aus fünf verschiedenen Herkunftsländern sollten gestern Abend im Großen Saal des Deutschen Theaters zum Abschluss des Berliner Lesefests Stadt Land Buch über Flucht und Vertreibung, Ankunft und Heimat erzählen – so war es angekündigt. Und keiner tat das so eindringlich wie der aus dem Iran stammende Bahman Nirumand.

Der Text aus dem er las, heißt knapp und passend "Die Flucht" (er erscheint demnächst bei Rowohlt). Nirumand, der seit den 80er Jahren in Berlin lebt, erzählt darin von der Flucht vor dem islamischen Regime des Ajatollah Chomeini während einer mondhellen Nacht. Eine Gruppe von Verfolgten kriecht – von einem Schlepper angeführt – auf steinigem Boden mit blutigen Armen und Knien über die östliche Grenze nach Pakistan.

Es treibt sie die Angst vor Folter und Verhaftung, sie wissen, dass die Namen von Freunden auf Todeslisten stehen. Und doch macht die gelungene Flucht nicht glücklich: "Ich kannte das Leben im Exil, die quälende Sehnsucht nach der Heimat", schreibt Nirumand. Er weiß, die Flucht bedeutet, "mich selbst zu verlassen, Hoffnungen und Utopien, Freunde und Verwandte". Am Ende steht daher die Frage: "Wie würde ich all das verarbeiten können?"

"Ich bin weit entfernt von dem Ort, an dem ich sein sollte"

Im Gespräch mit dem Rundfunkjournalisten Salli Sallmann, der durch den Abend führte, sagte Nirumand denn auch: "Niemals glaube ich, dass jemand seine Heimat, das eigene Leben freiwillig verlässt." Ihn selbst plagt nach wie vor die Sehnsucht nach dem Land seiner Geburt: "Ich bin weit entfernt von dem Ort, wo ich sein sollte." Aber Nirumand sagt auch: "Ich weiß nicht, ob die Heimat noch existiert, die ich in Erinnerung habe."

Vielleicht sei diese Sehnsucht nach einem bestimmten Ort, auch nur ein Problem seiner Generation, sinnierte der Schriftsteller, womöglich falle den Jüngeren, die anders, nämlich gewissermaßen global sozialisiert seien, der Abschied leichter.

Ein Stück Stacheldraht als Souvenir

Die polnische Autorin Joanna Bator las im Anschluss einen Ausschnitt aus einem neuen, auf Deutsch noch unveröffentlichten Roman. Der slowenische Autor Drago Jančar hatte in einer roten Schachtel ein Stück Stacheldraht mitgebracht, der spitze Draht (Pendant zu den Berliner Mauerstücken) wurde als Souvenir verkauft. Paradoxerweise, so Jančar, ist der Stacheldraht nun plötzlich wieder gegenwärtig – ganz wie zu den Zeiten, die überwunden schienen. Er wird nicht in kleinen Stücken als Souvenir verkauft, sondern zur Grenzbefestigung ausgerollt.

Der Berliner Friedrich Christian Delius schließlich las aus einem Roman, der bereits 1984 erschienen ist: "Adenauerplatz". Hauptfigur ist der Deutsch-Chilene Felipe Gerlach, der als politischer Flüchtling in Berlin lebt. Der wuchtige Textauszug, den Delius vorstellte, erscheint wie ein Vorgriff auf unsere Gegenwart. "Die Fiktion ist wahr geworden", sagte Delius denn auch. Der forschen Frage des Moderators, wie die Flüchtlingsproblematik denn nun gelöst werden könne, begegnete Delius mit dem Verweis darauf, dass Literatur nicht mit Handlungsanweisungen dienen könne, ihre Aufgabe sei es stattdessen, Widersprüche zuzuspitzen.

"Wir hatten uns Beine aus Wind geliehen"

Die großartige Herta Müller präsentierte zuletzt Textcollagen, aus Zeitungen und Broschüren ausgeschnittene Wortschnipsel, die sie zu leuchtend schönen Aphorismen, Gedichten, Reflexionen gefügt und auf Blätter im Postkartenformat aufgeklebt hat. "Ich sollte packen, solang ich noch an mir beteiligt bin", heißt es da etwa. Oder: "Wir hatten uns Beine aus Wind geliehen, als wir geflohen sind."

Der Erlös des Abends (ca. 4000 Euro) kam dem Büro für medizinische Flüchtlingshilfe in Berlin zugute. Autoren und Moderator hatten dafür auf ihr Honorar verzichtet, gespendet wurden auch die Einnahmen aus den Buchverkäufen.

So ging ein Festival in bewegten Zeiten zu Ende, dessen Auftakt am 15. November (ebenfalls im Deutschen Theater: ein Gespräch zwischen dem Krimiautor Wolfgang Schorlau und dem Politiker Gregor Gysi) überschattet war vom Terror in Paris. Wie im Vorjahr kamen rund 8000 Besucher zu Stadt Land Buch. 26 Buchhandlungen in Berlin, 20 Buchhandlungen in Brandenburg und andere Orte literarischen Lebens wurden zu Bühnen für 140 Lesungen mit über 200 Autoren und Künstlern.

2015 präsentierte sich mit der Republik Slowenien erstmals ein Gastland. "Auf den fünf Veranstaltungen mit slowenischen Autorinnen und Autoren konnten wir über 1.000 Gäste zählen", sagt Detlef Bluhm, Geschäftsführer des Landesverbands Berlin-Brandenburg im Börsenverein und damit Gastgeber des Festivals. "Unser Gastland hat so entscheidend zum Erfolg der diesjährigen Stadt Land Buch beigetragen. Wir werden das Gastland-Format im nächsten Jahr fortführen."

Neu in diesem Jahr war zudem die Kooperation mit der Audio-Streaming-Plattform "Voice Republic": Zahlreiche Schwerpunktveranstaltungen wurden via Live-Stream übertragen und können hier nachgehört werden

Potsdam war 2015 Schwerpunktstadt des Lesemarathons in Brandenburg, unter anderem präsentierten Ulrich Peltzer, Mathias Iven, Maxim Leo, Andrea Sawatzki und René Schwittay neue Bücher. Weitere Veranstaltungen gab es in Cottbus, Eberswalde, Frankfurt (Oder), Lebus, Neuruppin, Rathenow und anderen Städten.

Auch in diesem Jahr fanden der Krimimarathon Berlin-Brandenburg (17.−22. November) und die Woche unabhängiger Buchhandlugen (WUB; 14.−22. November) in Kooperation mit Stadt Land Buch statt.