Leselust

Das Gehirn des Buchkörpers entdecken

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Irritationen machen neugierig: Der fehlende Buchrücken bei Paul Valérys "Cahiers" offenbart die Arbeit des Buchbindens. Ein Beitrag von Iris Farnschläder.

Im Regal fällt das Buch gleich auf, außergewöhnlich und aufregend zugleich: Der Rücken fehlt – ich scheine in das "entblößte" Buchinnere zu schauen. Die Rückseiten der durchstochenen Druckbögen wirken wie Gehirnwindungen, die roten Fäden wie Adern. Das rotlederne Rückenschildchen der "Anderen Bibliothek" wurde direkt darauf geklebt.

Ich nehme es heraus. Das Buch steckt in einem bedruckten, offenen Kartonschuber. Das Foto des Autors auf dem Cover und die Farbgebung wirken geheimnisvoll-intellektuell. Was sagt die Kurzbeschreibung auf der Rückseite: Paul Valéry füllte 263 Schulhefte (Cahiers) mit seinen Notizen, in denen er alltägliche Bewusstseinsprozesse ergründete wie Empfindungen, Wahrnehmungen, Wünsche und Träume. Inhaltlich bekommen wir Einblick in die ­Bewusstseinsprozesse, das "Denklaboratorium" des Autors. Formal ist es ein Blick ins Innere des Buches, hinter die Kulissen, in das "Gehirn" des Buchkörpers. Wie passend!

Ich ziehe den Schuber zurück: Der blassdunkelrote, unaufdringlich genarbte Papierbezug erinnert an Kladden. Dieser Ton zieht sich als Schmuckfarbe durch das ganze Buch. Auf dem Vorsatzpapier ein typografischer Rapport wie auf einer Tapete, der leicht gelbliche Papierton passt genau zu den angenehm anzufassenden Buchseiten. Schrift und Typografie wurden zweifarbig gelöst, haben eine ruhige und kraftvolle Ausstrahlung und betonen das schmale Format.

Und schon lese ich. Die Entdeckungsreise durch diese außergewöhnliche Buchgestaltung hat mich neugierig auf den Inhalt gemacht.

Iris Farnschläder studierte Buchgestaltung bei H. P. Willberg und arbeitete acht Jahre bei Rowohlt in der Herstellung. Heute führt sie mit Jörg Mahlstedt ein Gestaltungsbüro in Hamburg mit Schwerpunkt Typografie: Farnschläder & Mahlstedt, www.fmtx.de