Lesetipp: "Drach", "Bestiarium", "Eine Straße in Moskau"

Große Würfe aus dem Osten

13. Juni 2016
von Börsenblatt
Literarisches Tausendsassatum in drei osteuropäischen Romanen, zwei davon Debüts: Die Romane von Szepan Twardoch, Michail Ossorgin und Tomasz Różycki bestechen durch ungewöhnliche Perspektiven und Mut zu experimentellen Erzählweisen.  

Szczepan Twardoch (Jahrgang 1979) macht in seinem zweiten Roman "Drach" (Rowohl Berlin, 416 S., 22,95 Euro) die Erde selbst zur Erzählerin − ein Kunstgriff, den er bereits in ähnlicher Form in seinem furiosen Romandebüt "Morphin" (Rowohlt Berlin) erprobt hatte. In "Morphin" verwickelte er noch einen deutsch-polnischen Husaren in ein hoffnungsloses Geheimdienst-Abenteuer im besetzten Polen, einen ähnlich düsteren Ton schlägt auch sein neues Buch an, nur spannt er den erzählerischen Bogen ungleich weiter. In "Drach" werden die Schicksale von vier Generationen einer schlesischen Familie auf stakkatohafte Weise ineinander montiert: Werden und Vergehen − am Ende frisst der grausame Weltendrache alle seine Kinder. 

Ein ebenso gewaltiger wie schwerverdaulicher Roman, ein gelungenes, literarisches Experiment voller außergewöhnlicher Figuren, vor allem ein rasendes Plädoyer gegen die Sinnlosigkeit des Krieges. Besonders viel Raum erhalten der Minenarbeiter Josef Magnor, der in einen Strudel des Verbrechens gezogen wird und sein liebeskranker und traumatisierter Urenkel Nikodem: als Architekt des heutigen Nachwendepolens mag er so erfolgreich sein, wie er will: die Dämonen seiner erfolglosen Beziehungen und die Schrecken eines Familiendramas fressen ihn bei lebendigem Leib auf. Wie beim Vorgänger wurde Twardoch für seinen Roman im geschichtsbegeisterten Polen gefeiert – sein Buch ist ein ambitioniertes, erzählerisches Wagnis und eine literarische Sensation, eine leichte Lektüre ist "Drach" aber nicht.

Szczepan Twardoch: "Drach". Rowohlt Berlin, 416 S., 22,95 Euro

Interessante Parallelen zu "Drach" finden sich in Michail Ossorgins Jahrhundertroman "Eine Straße in Moskau": da wären der Anspruch, ein Panorama von welthistorischer Spannweite durch das Mikroskop eines distanzierten Erzählers zu betrachten. Geradezu filmisch mutet Ossorgins Technik an, aus dem der Ferne in das Geschehen hineinzuzoomen: Vom Weltall in die Stube des Ornithologen Iwan Alexandrowitsch, hinein bis in die Holzfasern seiner Wohnstube, durch die sich die Würmer nagen. Deutlicher könnte die Abneigung gegen das sinnlose Schlachten des Ersten Weltkriegs nicht sein und die scharfe Kritik an der gewaltsamen gesellschaftlichen Umwandlung durch die Bolschewiki – meisterhaft dargeboten im Kapitel "Stadt der Affen", in der ein Zoodirektor in einem Gehege grauer Meerkatzen ein Rudel roter Brüllaffen ansiedelt, die schon bald dem Beispiel ihres bestialischen Anführers folgen und die Population der "Grauen" terrorisieren: "Wohin er auch sprang, wandten sich ihm alle, wie auf Kommando, stets zu, beobachteten aufmerksam seine Bewegungen, bereit, jeden Moment zur Seite zu springen. Wenn er sich weiter entfernte oder im Haus schlief, wagten sie, ihre Wunden zu lecken, an einer Möhre zu nagen, einander zu lausen, und, rasch und ängstlich, sich zu lieben. Wenngleich das Leben auch unerträglich war, musste es doch weitergehen. Doch es war ein Leben zum Untergang Verurteilter." Der Roman des Juristen Ossorgin ist in den 20er Jahren im Pariser Exil entstanden und wurde erstmals 1928 veröffentlicht. Nun liegt er in der "Anderen Bibliothek" in herausragender neuer Übersetzung vor, ergänzt um 50 Seiten Anmerkungen und ein bemerkenswertes Nachwort der Übersetzerin Ursula Keller.

Anders als bei Twardoch erlauben die kurzen, dichten Kapitel und der chronologische Erzählstrang eine leichtere Orientierung – das Buch behandelt die Jahre 1914 bis 1920. Der Roman sperrt sich nicht dem Leser, sondern lädt zum Entdecken ein. Das Schicksal seiner Figuren, die sich um den Professorenhaushalt in der "Siwzew Wrashek" gruppieren, etwa die Coming-of-Age-Geschichte der schönen Tanjuscha oder das grausame Schicksal ihres Freundes Stolnikow, der zum Kriegsinvaliden, zum "Stumpf" wird, bauen eine gewaltige Spannung auf und fesseln bis zur letzten Seite.

Michail Ossorgin: "Eine Straße in Moskau". Die Andere Bibliothek (Extradruck), 528 S., 24 Euro

Nicht nur durch "Eine Straße in Moskau" fliegen Schwalben und krabbeln die Mäuse, in "Drach" sind es die Tiere die Waldes, etwa Hirschböcke, die leitmotivisch immer wieder in den Fokus rücken: Ihr Leben und Sterben wird dem der Menschen gleich gesetzt. Auch in Tomasz Różyckis surrealen und vollkommen abgedrehten Romandebüt "Bestiarium" wimmelt es nur so von realen wie fantastisch-dämonischen Kreaturen: plötzlich auftauchende Nilpferde, Quälgeister, Hunde und – Überraschung – ebenfalls eine Meerkatze. 

Nicht, dass diese Gestalten für dieses Romandebüt von besonderer Bedeutung wären! Bekannt ist der Autor (Jahrgang 1979, Opole) hierzulande durch das brillante Prosagedichts-Roadmovie "Zwölf Stationen". Rózyckis Roman ist als Stück-im-Stück konzipiert, die Handlung folgt den alkoholisierten Traumgängen des schlafenden Ich-Erzählers, durch dessen Fanstastereien der Leser irrlichtert: Verklärte Verwandte, Pelze, die Stromstöße verteilen, eine gewaltige Sintflut, eine Stadt unter der Stadt, alte Familiengeheimnisse über das Erbe eines Schlachthauses – ein merkwürdiger Schlüssel, Geheimverstecke und alptraumhaft verzerrte Gestalten, inzestuöse Liebschaften und Familienfehden, alles wird zusammengehalten in der phantasmagorischen Traumlogik eines Trinkerromans. Das liest sich wie Gombrowicz auf LSD mit einem ordentlichen Schuss Wenedikt Jerofejew ("Reise nach Petuschki"). Ein Buch, das sich nicht beschreiben, sondern nur entdecken lässt – mit großem Gewinn für Leser, die einmal staunen wollen.

Tomasz Różycki: "Bestiarium". edition.fotoTapeta, 206 S., 19,80 Euro

Über literarische Novitäten (Sommer und Herbst) können Sie sich auch in unserem Börsenblatt Spezial Belletritsik (Heft 24)  informieren, dass am 16. Juni erscheint.