Lesung mit Marie-Aude Murail

Schriftstellerin rund um die Uhr

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Lautes Stühlerücken, Stimmengewirr, neugierige Erwartung: Voll bis auf den letzten Platz drängten sich Kinder, Jugendliche und Erwachsene heute Abend in der Schwanenhalle des Frankfurter Rathauses, um die französische Autorin Marie-Aude Murail aus ihrem Roman "Das ganz und gar unbedeutende Leben der Charity Tiddler" lesen zu hören.

Gemeinsam mit ihrem Übersetzer Tobias Scheffel zog Murail im Nu die Zuhörer in ihren Bann. Sich Wort- und Satzfetzen zuwerfend ("Meine Lieblingswörter sind amour und humour, Liebe und Humor – na, und das reimt sich sogar ..."), spielten die beiden mit Gedanken und Ideen, führten gegenseitig die Sätze des anderen zu Ende – man merkt: Die beiden sind ein vertrautes Team, das sich über die Jahre kennen und schätzen gelernt hat. Und: Sie lachen gemeinsam mit dem Publikum.

Ihr Roman "Das ganz und gar unbedeutende Leben der Charity Tiddler" (S. Fischer) passt dabei nur zu gut zu der aufgeweckten, quirligen Frau mit der beigen Baskenmütze, die jungen und älteren Lesern eine erfundene Autobiografie von Beatrix Potter geschenkt hat. Murail hat viel von dem fiktiven Ich, der neugierigen Charity, die sich, oft auf sich allein gestellt, unzählige Gedanken über das Leben und die Welt macht. Angesiedelt im viktorianischen England, wie immer bei Murail mit unbeschwert-heiterem Ton erzählt, begleitet die Geschichte die kleine Charity auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden. 

Dadurch, dass Marie-Aude Murail und ihr Übersetzer Tobias Scheffel passagenweise lasen, entstand eine ungemeine Lebendigkeit, die beide mit sichtlicher Freude zum Extemporieren nutzten. Anschließend beantwortete die Autorin Fragen der Zuschauer, wobei sie sich vor allem viel Zeit nahm, den Kindern verständliche und lustige Antworten zu geben: "Schreiben Sie morgens oder abends?" "Ich bin eine Mama, die schreibt, und keine Schriftstellerin, die Kinder hat. Und ich schreibe überall, im Garten, auf den Knien, beim Hausaufgabenkontrollieren oder im Wartezimmer des Zahnarztes – ich bin Schriftstellerin rund um die Uhr." Als sie sich lächelnd bedankte, brandete Applaus auf. Minutenlang. Die Sympathie der Zuhörer hat sie sichtbar gewonnen.

Am Vormittag hatte Murail mit Schülern der Europäischen Schule Frankfurt diskutiert und ihnen empfohlen, "ruhig Zeit zu verlieren" – und in einer Welt, in der immer mehr Druck ausgeübt werde, könne man damit schon als Kind beginnen. Morgen trifft die Autorin Schulklassen des Lycée Français Victor Hugo; die Begegnung hatte die Initiative "Autoren in der Schule" des Elternvereins UPEA (Union des Parents et Amis d’Elèves) organisiert. Verabnstalter der Lesung heute Abend im Frankfurter Römer waren das Jugend- und Sozialamt im Rahmen der Kinder- und Jugendbuchausstellung "LeseEule" sowie der Verein "Français du monde –adfe", der Familien im Ausland die Möglichkeit bieten will, französischsprachige Kultur und Literatur kennenzulernen.