Lieblingsbuchhandlung

Neuronaler Knotenpunkt

10. November 2016
von Börsenblatt
Emma Braslavsky beschreibt, wie Neurotitan in Berlin die Zukunft des Buchhandels vorwegnimmt.

Warum schreibe ich über einen ­Laden, der kein klassischer Buch­laden ist, der anarchisch aussieht und nicht mit Attributen wie "gut sortiert" wirbt? Als ich gebeten wurde, über meine Lieblingsbuchhandlung zu schreiben, fiel mir Neuro­titan als Erstes ein, dann König, Menger in Tempelhof, Karl Marx in Friedrichshain oder Ocelot in Mitte. Warum diese?
Neurotitan liegt im Haus Schwarzenberg in Berlin-Mitte, nahe der aufpolierten Hackeschen Höfe. Um sie herum spiegeln die Fassaden und Schaufenster, in denen sich Mensch und Tier beim Auf-der-Straße-Gehen beobachten können. Wer den Hof des Vereins Haus Schwarzenberg betritt, verlässt den Wohlfühlwaren-Sektor, er wird hineingezogen in eine Trotzburg, deren Sortiment in den späten 90ern mit handgebundenen Ausstellungsheftchen und Comics begann und sich bis heute (wenn auch deutlich erweitert) jenseits der gut verkäuflichen Angebotspalette hält. Dort gibt es faszinierende, künstlerisch hochwertige Bücher und Bände, die du in jedem anderen Buchladen vergeblich suchst. Bücher von Künstlern und nicht über Künstler.
Aber wichtiger noch: Neurotitan handelt weniger mit der "Ware Buch" als mit "Lebenshaltung", mit den Auswirkungen von Literatur, mit bestimmten neuronalen Reizen, mit dem, was nach dem Text kommt: mit Identität. Neurotitan handelt mit dem Wandel und bietet Experimente. Jemand, der dorthin geht oder der nach der Arbeit mit einer Flasche Bier in der zugehörigen  Galerie steht, wird Teil dieser Haltung, Teil dieses Wunschs nach Wandel, nach Widerstand. Und wenn jemand dort etwas kauft, dann will er diese Haltung mit nach Hause nehmen. Was Neurotitan allerdings noch fehlt, ist eine App.
Nein, mir geht es nicht um eine Hommage an die Trashkultur. Anarchie ist bloß in bestimmten Dosen hilfreich, aber sie ist ein wichtiges Molekül in unserer Welt, sie reißt uns aus unserem Trott und hämmert uns ein, dass unsere Weltvorstellungen so nicht bleiben können. Ich bin ehrlich: Ich kaufe viele Bücher über Onlinebuchhändler. Du sitzt mit Freunden, jemand redet über ein Buch, du startest die App, fertig. Meistens weiß ich schon, was ich will. Mein Leben geht schneller, und Geschwindigkeit ist alles. Trotzdem brauchen Geschichten (und Bücher) Orte, neuronale und semantische Knotenpunkte, von denen aus die Reize gesendet und verteilt werden.

Ihr seid im Vorteil, liebe Buchhändler, ihr habt den Raum, und der Homo sapiens ist süchtig nach Geschichten. Geschichten sind das Fundament der Menschheit! Sie sind die Programme, die den Geist der Welt steuern, von denen unser aller Leben abhängt, wie es verläuft, politisch und privat. Wir erleben mehr denn je: Manche Geschichten können auch unser Untergang sein, wenn wir von ihnen besessen werden. Eine alte Welt liegt im Sterben; eine neue wird gerade geboren, hieß es bei den Situationisten Mitte des letzten Jahrhunderts. Seit wir von Menschheit reden, erzählen wir von unseren Krisen, die nie etwas anderes waren als Schwellen zu einem nächsten Level. Und: Krisen sind Fach der Literatur.
Nachtleben mit Nebenwirkung  Ich habe noch eine Vision: In der Zukunft sehe ich keine "klassischen" stationären Buchhandlungen mehr (also reine Händler der Ware Buch), sondern Lokalitäten, die sich mit dem Sonnenuntergang verwandeln, die auch zum Nachtleben gehören, wenn wir nicht mehr wie Tiere in der Wildnis Essen und Behausung sichern müssen und endlich Zeit für Geschichten und Geschichte-Machen haben. Ich sehe Plätze für das neuronale Netz der Literatur (jenseits von Wasserglas-Lesungen), für deren (Neben-)Wirkungen, für Haltung, für Neues, für Waghalsiges, für Wandel, für Identifikation, für unsere ­Krisenbewältigungen. Dieser Transformationsprozess hat bei einigen Buchhandlungen bereits begonnen. Bei euch werden Stoffe erlebbar und dort (und in euren Apps) wird auch ihr Umschlagplatz sein. Gründet Gesellschaften, nehmt Sponsoren und Partner, sucht euch Galions­figuren. Ich sehe Thinktanks, Lesesäle, Clubs, Debattierhallen, ich sehe Veranstaltungen, in denen auch Nichtschriftsteller bei euch mitschreiben, Gedrucktes um­erzählen und weiterschreiben, Teil der Stoffe werden, auf Bühnen stehen, live auf euren Onlineplattformen übertragen werden und mitgestalten. Und das inmitten eures ganz speziellen Sortiments. Denn das können Onlinebuchhändler nicht. Neuro- meint Nervensystem, das uns alle bindet und verbindet, das uns ausmacht und ernährt. Und ein Titan kann das in außergewöhnlich hohem Maße.
Werdet Neurotitane! Wir brauchen mehr von euch ...