Literatur für Jungs

Weltenretter und Nerds

23. September 2016
von Börsenblatt
Jungs lesen nicht? Kommt ganz auf den Lesestoff an. Ein Parforceritt durch das, was die männlichen Leser zurzeit so mögen.  

Erst die Hysterie um die statistisch diagnostizierte Lesefaulheit von Jungs, dann eine Unmenge an »Boys only«-Büchern – und jetzt? »Leider werden reine ›Jungsbücher‹ oft nach dem Prinzip der Vereinfachung entworfen«, so die Be­obachtung von Gulliver-Cheflektor Christian Walther. »Das kann dazu führen, dass Jungs sich nicht ernst genommen fühlen und sich dagegen sträuben, solche vermeintlich ›einfacheren‹ Bücher zu lesen.« Dass simple Geschichten der falsche Ansatz sind, sieht Magellan-Lektorin Barbara Dietzel genauso: »Auch wenn die Mehrheit der Leser weiblich ist und Jungs sich oft nicht so sehr für Bücher zu interessieren scheinen, sind die, die es tun, in ihrer Wahl nicht minder anspruchsvoll als Mädchen.« 

Nach der aktuellen Kim-Studie lesen Jungs sogar wieder mehr; dabei ist besonders erfreulich, dass die Zahl derer, die nie lesen, um 20 Prozent gesunken ist. Das sind zwar immer noch doppelt so viele Leseverweigerer wie bei den Mädchen, doch die Tendenz stimmt hoffnungsfroh; zumal die Zahl der Jungs, die jeden Tag und mit großer Freude lesen, von sieben auf zwölf Prozent gestiegen ist. 

Woher die neue Leselust kommt, darüber darf spekuliert werden. Doch schaut man sich die Neuerscheinungen im Kinder- und Jugendbuch an, fällt es inzwischen leichter, gute und passende Bücher für Jungen zu finden. Standen lange Zeit humorvolle Alltagsgeschichten im Gefolge von »Gregs Tagebuch« im Vordergrund, interessieren sich die jungen männlichen Leser – Action und Abenteuer vorausgesetzt – momentan wieder stärker für Themen rund um Computerspiele und soziale Netzwerke, aber auch für Lesestoff über Naturwissenschaften, wie Arena-Vertriebsleiterin Sigrid Klemt konstatiert. 

Superhelden gesucht  
Bücher für Jungs, das sind vor allem und fast ausschließlich Bücher, in denen die Rolle des Protagonisten durch einen Jungen oder einen männlichen Charakter besetzt ist. Thematisch geht es meist darum, was oder wer die Welt im Innersten zusammenhält – und das ist zumeist nicht Gott, sondern der Protagonist himself. Ein wunderbares Buch in diesem Sinne ist Todd Hasak-Lowys »Dass ich ich bin, ist genauso verrückt wie die Tatsache, dass du du bist« (Beltz & Gelberg, 654 S., 18,95 Euro). Die Welt des Protagonis­ten gerät durch die Scheidung seiner Eltern und das Coming-out seines Vaters ins Taumeln. Das Buch bietet größtes Lesevergnügen und schildert den Kampf des Protagonisten, seine in Unordnung geratene Welt wieder fassbar zu machen.

»Jede Geschichte hat einen Helden. Wichtig ist nur, dafür zu sorgen, dass man selbst der Held ist«: Das schreibt Frank Cottrell Boyce in »Broccoli Boy« (Carlsen, 352 S., 14,99 Euro). Ein Satz, der den Anspruch »Think Big!« bestens unterstreicht. Dazu passt, was Sarah Benwell in »Es. Ist. Nicht. Fair« formuliert (Hanser, 352 S., 18 Euro): »Was ich gerne wäre? Es gibt so viele Möglichkeiten: ehrlich, lustig, mutig. Ein Superheld mit einer tragischen Vergangenheit und einer glänzenden, geheimnisvollen Zukunft, mit übermenschlichen Kräften und tele­kinetischen Fähigkeiten.« Beide Bücher könnten in Zielgruppe und Thematik kaum unterschiedlicher sein, und doch zeigen sie stellvertretend für einen Großteil der aktuellen Kinder- und Jugendbücher, worum es den männlichen Protagonisten geht. Dieses Konzept verfolgt auch Sarvenaz Tashs »Die (beinahe) größte Liebesgeschichte des Universums« (Magellan, 304 S., 16,95 Euro): Hier führt, gepaart mit höchstmöglichem Nerdfaktor, die Entdeckung der »geheimen Liebesgesetze des ­Universums« zu einer charmanten Interpretation des Liebes­romans für Jungs. 

Aber wollen alle wirklich nur Superhelden sein? Patrick Ness zeigt in »Das Morgen ist immer schon jetzt« (cbj, 320 S., 16,99 Euro), dass sich Jungs auch bei ganz alltäglichen Fragestellungen beweisen können – und das in dem Wissen, »dass die Welt keinen Sinn ergibt«. Trotzdem müsse man immer wieder aufs Neue versuchen, glücklich zu sein. Humorige Wortspiele und die Ausgestaltung des Jungen als homo ludens – damit punktet Gudrun Skrettings Buch »Mein Vater, das ­Kondom und andere nicht ganz dichte Sachen« (272 S., 14,99 Euro), das bei Carlsen pünktlich zu Weihnachten erscheinen wird. Es ist der Humor, der dem atmosphärisch dichten und vielschichtigen Roman den Charme des Besonderen verleiht. Und das, ohne dass der Witz auf Kosten einer Figur ginge! 

Transgender-Thema  
Ganz ohne Humor und mit fast schmerzhaft nüchterner Sprache entwirft Jesper Wung-Sung in seinem Roman »Opfer« (Hanser, 144 S., 13,90 Euro) ein bedrückendes Szenario, das vor dem klaustrophobischen Hintergrund einer unter Quarantäne stehenden Schule existenzielle Fragen aufwirft. Die Zwangsgemeinschaft aus Lehrern und Schülern legt schmerzhaft offen, was von Kultur und moralischen Grundsätzen bleibt, wenn es nur noch ums Überleben geht, wenn aus einem »Wir« scheinbar alternativlos nur noch ein »Ich« wird. Während es hier um ethische Fragen geht, stellt der Held in Alex Ginos Buch »George« (S. Fischer, 208 S., 14,99 Euro) fest, dass die männliche Rolle, in die er hinein­geboren ist, rein gar nichts mit ihm selbst zu tun hat. Denn George liebt Rosa, liest Mädchenzeitschriften und fühlt sich als Mädchen – George ist ein Mädchen. Seine engste Freundin Kelly steht zu George und ermutigt sie, offen so zu sein, wie sie ist. Dieser eindringliche Transgender-Roman erzählt eine anrührende Geschichte vom Sich-finden und Sich-behaupten. Wie schwer das schon ist, wenn Jungen zu Männern heranwachsen, zeigt Mårten Melins Roman »Etwas mehr als Kuscheln« (Klett Kinderbuch, 150 S., 12,95 Euro). Kompromisslos offen schildert er, was in Kopf und Körper des 13-jährigen Manne und der zwei Jahre älteren Amanda vorgeht – und wie der Altersunterschied im Umfeld der beiden auf Unverständnis stößt.

Damit zu den Geschlechterklischees: »Natürlich hätte es mir mindestens eben so viel Spaß gemacht, in ›Elanus‹ ein Drohnen konstruierendes Mädchen in den Mittelpunkt zu stellen«, sagt Ursula Poznanski, »aber ich hätte ihre Begabung viel stärker zum Thema machen, die Umgebung ganz anders reagieren lassen müssen, um glaubwürdig zu bleiben.« Und so kommen die Leser bei ihrem Thriller »Elanus« (Loewe, 416 S., 14,95 Euro) in den Genuss eines thomas-bernardesk herumpolternden 17-Jährigen, der wohl bei der Wahl des arrogantesten Romanhelden auf einem der vordersten Ränge landen dürfte.

Chaotisches Jungs-Universum  
Auch wenn Jungen vielleicht schmuddelig, manchmal ein wenig in sich gekehrt oder raufboldig sind – oder sich gar als Weltenretter gerieren: In der Literatur wie im Leben darf man sie sich durchaus als reflek­tierende Lebewesen vorstellen. Natürlich wollen Jungen manchmal auch einfach nur Spannung und Abenteuer haben. Für Lese­anfänger bestens geeignet ist da der Titel »Lego Nexo-Knights. Ritter in Monsterlaune« (Ameet, 64 S., 7,99 Euro), in dem sich die Ritter Lance, Clay und Aaron in drei spannenden, illustrierten Geschichten gegen fiese Monster beweisen müssen. Um Leben und Tod geht es in Joe Craigs Super­agententhriller »J. C. Agent im Fadenkreuz« (cbj, 320 S., 9,99 Eu­ro) – fesselnde Spannungsliteratur inlusive Weltrettung. Ein chaotisches Jungs-Universum entwerfen Christian Tielmann und Zapf in ihrem Buch »Mein Leben mit verknallten Hirnlosen und knallenden Klos« (Carlsen, 240 S., 9,99 Euro). Es verfügt nicht nur über zahlreiche Comic-Illustrationen, sondern weist auch eine Fülle humorvoll-markiger Sprüche auf. 

»Wir sollten uns in jedem Fall von Büchern verabschieden, die langweilige Rollenklischees und platte Geschichten verbreiten. Das gilt für beide Geschlechter«, meint Knesebeck-Lektorin Tatjana Kröll. »Aber Bücher für Jungs, die facettenreiche Lebens­modelle anbieten und die ganze Bandbreite des ›Mannseins‹ darstellen, ohne zu werten – die gibt es noch nicht genug.«