Literaturnobelpreis für Swetlana Alexijewitsch: Pressekonferenz in Berlin

"Ich würde lieber über Literatur reden - aber die Fragen stellen Sie"

11. Oktober 2015
von Holger Heimann
Swetlana Alexijewitsch kam am Samstag nach Berlin. Während draußen gegen TTIP demonstriert wurde, sprach die frisch gekürte Literaturnobelpreisträgerin in den Räumen der Bundespressekonferenz über die Lage in der Ukraine, über die Wahl in Weißrussland - und ihren ersten Gratulanten am Donnerstag.

Rund um das Haus der Bundespressekonferenz in Berlin wurde demonstriert. Etwa 250.000 Menschen sollen unterwegs gewesen sein, um gegen das Freihandelsabkommen TTIP zu protestieren. Die Straßen waren blockiert. Erstaunlicherweise schafften es Swetlana Alexijewitsch und ihr Verleger Karsten Kredel trotzdem pünktlich zur Pressekonferenz am Samstag um 13 Uhr.

Die Parolen gegen TTIP blieben draußen und waren nur noch gedämpft zu hören, trotzdem ging es auch drinnen um Politik. Die in Minsk lebende Swetlana Alexijewitsch, die von sich selbst sagt, seit 30 Jahren an einer Chronik des sowjetischen Menschen zu schreiben, gilt als Expertin für Fragen zur Lage in Russland, der Ukraine, wo sie geboren wurde, und ihrer Heimat Weißrussland.

"Die Opposition im Land ist zerstritten"

Und so wurde sie ausführlich zu den dort bevorstehenden Präsidentschaftswahlen befragt, bei denen der Sieger schon feststeht: der derzeitige, autoritär regierende Machthaber Lukaschenko. Und das nicht, weil man sich in Weißrussland im Zweifelsfall an einen Satz von Stalin erinnern wird: "Es ist unwichtig, wer abstimmt und wie abgestimmt wird, wichtig ist nur, wer die Stimmen auszählt." Die Opposition im Land sei zerstritten und vor allem mit der eigenen Eitelkeit beschäftigt. Sie fühle sich diesen Leuten daher nicht zugehörig, sagte die geduldig Auskunft gebende Literatin.

Es fehlt also an politischen Alternativen, vor allem aber an einem Mentalitätswandel. Nach dem Sozialismus sowjetischer Prägung habe man derzeit allenfalls eine Zwischenstation erreicht: "Es war eine naive Vorstellung zu glauben, dass wir sofort die Freiheit erlangen. Denn dafür braucht es freie Menschen, die aber gibt es bei uns noch nicht" – so klingt Ernüchterung.

"Putin steckt in fast allen russischen Menschen"

Tatsächlich ist es, folgt man der Diagnose von Swetlana Alexijewitsch, sogar noch schlimmer: "Putin steckt in fast allen russischen Menschen." Angesichts einer deprimierenden Gegenwart hielten sich viele allein an der Größe und der scheinbar ruhmreichen Vergangenheit des Landes fest. Stalin sei daher lebendiger als alle Lebenden. Das einzige Museum in Russland, das bis vor Kurzem noch an die Repressionen unter dem Diktator erinnerte, wurde gerade umgewidmet, erzählte Swetlana Alexijewitsch. Das Haus im Perm, im Vorland des Ural, feiert jetzt die Bewacher der Häftlinge als die wahren Helden.

Es waren durchweg Antworten auf politische Fragen, die aber doch zum Werk der Nobelpreisträgerin führten. In ihrem bislang letzten und vielleicht wichtigsten Buch, "Secondhand-Zeit", beschreibt sie exakt diese Dynamik – wie die Vorstellung von einem besseren Leben zu Grabe getragen wird und stattdessen alte, gebrauchte Ideen wiederaufleben.

"Ich bin das gewohnt in Europa"

Dennoch schien der Verlauf der Pressekonferenz bei einigen durchaus für Irritationen zu sorgen, schließlich saß vorne nicht eine Frau, der das schwedische Komitee den Friedensnobelpreis, sondern den Literaturnobelpreis zuerkannt hatte (den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels hat sie 2013 erhalten). Ob sie gern diese Art von Auskünften geben würde, wurde sie also schließlich gefragt. Die Antwort: "Ich würde lieber über Literatur reden. Aber ich bin es gewohnt in Europa." Schmunzelnd gab sie noch zu bedenken: "Die Fragen stellen schließlich Sie."

Immerhin, ein wenig berichtete Swetlana Alexijewitsch dann doch von ihrer Arbeit. 350 Interviews  führe sie etwa für ein Buch, getragen von der Überzeugung, dass in jedem Menschen ein Stück Geschichte steckt. Das Sammeln des Materials sei durchaus mit dem Job eines Journalisten zu vergleichen. Die Auswahl und Anordnung der Interviews, das Verdichten einer einzelnen Auskunft zu einer Seite oder einem Satz  begreift sie jedoch als eine dezidiert literarische Arbeit. Es sei der Versuch, die Zeit aufzuschreiben und etwas aus dem Chaos unserer Existenz herauszugreifen und zu bergen.

Der Nobelpreis dürfte nun einen gewissen Schutz bedeuten für die Frau, deren Arbeit und deren Bücher immer wieder unterdrückt wurden. Die Auszeichnung wird zudem dafür sorgen, dass die Bücher von Swetlana Alexijewitsch jetzt über Länder wie Russland, Schweden, Frankreich und Deutschland hinaus bekannter werden.

Solschenizyns großer Schatten

"Ihre Bücher werden jetzt in aller Welt Leser finden", freute sich Karsten Kredel von Hanser Berlin. Die berühmt gewordene Autorin gestand, sie müsse sich noch einleben in die Existenz als Literaturnobelpreisträgerin und bekannte in Anspielung auf die russische Traditionslinie, in der sie nun steht: "Natürlich, sofort sieht man die großen Schatten: Solschenizyn, Brodsky, Pasternak".

Erster Gratulant, auch das erzählte Swetlana Alexijewitsch, war am Donnerstag der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck. Am Abend habe sie dann auch Lukaschenko angerufen. Das habe sie selbst am meisten gewundert.

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