Mit Novitäten die Welt erkunden

Von Ladonien bis Lakotah

30. Dezember 2015
von Börsenblatt
Rätselhafte Länder, Karten aus Tempelholz, ein Jahr ohne Sommer: neue Bücher über erstaunliche Reisen und unwirkliche Regionen.

Die Zeit der Irrfahrten und Abenteuer scheint vorbei zu sein. Smartphones berechnen alle Schritte und Abbiegungen im Voraus. Auf den Displays kann jedes noch so abgelegene Dorf von oben betrachtet werden. Reisen gehört zum Alltag, Karten sind allgegenwärtig. Und doch beweisen Bucherfolge über Couchsurfing, Pilgern auf dem Jakobsweg oder Karten abgelegener Inseln: Ungewöhnliche Reiseberichte und Atlanten haben immer noch Faszinationskraft.

Wie unterschiedlich die Versuche sind, die Welt in maßstäblicher Verkleinerung auf eine Fläche zu bannen, belegt "Map – Karten. Die Welt entdecken" (Phaidon, 352 S., 49,95 Euro). Der Band mit 300 Karten aus mehr als 2 500 Jahren führt vor Augen, welches Bild sich Menschen von der Erde machten und wie sie diese darstellten. Darunter findet sich eine babylonische Tontafel ebenso wie eine digitale Weltkarte, auf der Tweets als Lichtpunkte aufblitzen. Jede Doppelseite zeigt zwei Exemplare, die sich ähneln oder einen Gegensatz bilden. Wie Ai Weiweis Chinakarte aus dem Holz von Tempeln, die modernen Gebäuden weichen mussten. Im Buch steht sie einer kaiserlichen Seidenpapierkarte aus der Qing-Dynastie gegenüber.

Rätselhaft ist die Karte aus dem Reich der Mitte, die Timothy Brook vor wenigen Jahren in der Universität Oxford sah. Als Experte für die So­zial- und Kulturgeschichte der Ming-­Dynastie wusste der Kanadier schnell: Er betrachtete die bedeutendste chinesische Karte der letzten 700 Jahre. Ausgehend von Quanzhou im Südosten Chinas zeigt sie Schifffahrtsrouten quer durch Asien – vom Indischen Ozean bis zu den Gewürz­inseln, von Java bis Japan. Eineinhalb Quadratmeter groß ist die Wandkarte, um das Jahr 1620 mit Tusche gezeichnet. Darauf sind Pflanzen, Berge und eine Kompassrose zu sehen, durch die Wüste Gobi flattern zwei Schmetterlinge. Das Erstaunlichste: In der Mitte liegt das Südchinesische Meer, nicht das Kaiserreich. "Wie China nach Europa kam. Die unerhörte Karte des Mr. Selden" (Wagenbach, 224 S., 24,90 Euro) präsentiert Brook als kartografischen Detektiv, der die Menschen aufspürt, deren Schicksale mit der Karte verknüpft waren. Das Zeitalter erweist sich als global vernetzt: Der Welthandel nahm seinen Anfang, China entfaltete seine Macht und wandte sich Europa zu. Ein fesselndes Buch über eine Karte, auf der die Globalisierung durchschimmert.

Wie Chinas späterer Niedergang als Wirtschaftsmacht mit einem Vulkanausbruch zusammenhängt, zeigt Wolfgang Behringer in "Tambora und das Jahr ohne Sommer" (C. H. Beck, 398 S., 24,95 Euro). Der Berg Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa explodierte im April 1815 und büßte dabei ein Drittel seiner Höhe ein. Mehr als 10 000 Insulaner starben. Das Ergebnis des größten Vulkan­ausbruchs der letzten 5 000 Jahre: Asche, Schwefel und Gas verdunkelten die Sonne und die globale Temperatur sank um drei Grad.
Der Historiker schildert die Auswirkungen, die sich sogar auf der anderen Seite der Erde zeigten. In Westeuropa und Nordamerika kam es im Sommer 1816 zu starken Schneefällen. Die Folge waren Seuchen, Hungersnöte, Überschwemmungen, die ihrerseits politische und soziale Krisen nach sich zogen. Behringers Fallstudie beleuchtet, wie unterschiedlich die Gesellschaften in den folgenden fünf Jahren mit dem plötzlichen Klimawandel umgingen. Die Katastrophe verhalf dem Westen und Russland zum Aufstieg, Teilen Asiens entzog sie die Macht. Ein einziger Vulkanausbruch hat die Welt neu geordnet.

Worin das "Jahr ohne Sommer" seine Ursache hatte, ahnten die Zeitgenossen nicht. Das andere Ende der Welt blieb den Allermeisten verschlossen. Wie die Sehnsucht nach der Ferne Menschen seit jeher ins Unbekannte aufbrechen ließ, zeigt Rainer Wieland. In "Das Buch des Reisens. Von den Seefahrern der Antike zu den Abenteurern unserer Zeit" (Ullstein, 496 S., 48 Euro) versammelt er 69 Reiseberichte seit dem fünften Jahrhundert vor Christus. Der Karthager Hanno erkundet Westafrika, Ibn Battuta besteigt den Adam’s Peak auf Ceylon, Alexander von Humboldt schwitzt in den Tropenwäldern Südamerikas. Amelia Earhart fliegt allein über den Atlantik, Neil Armstrong betritt den Mond. Wie und warum reisen Menschen? Und was erfahren sie dabei? Vom Eroberungszug über die Wallfahrt bis zu heutigen Vergnügungsreisen breitet Wieland ein Panorama der Reiselust aus, in der auch immer ein Quäntchen Qual steckt.

Für seinen "Atlas der unentdeckten Länder" (Rowohlt Berlin, 288 S., 19,95 Euro) ist Dennis Gastmann zu den Ausläufern unserer durchorganisierten Welt gereist. Der Journalist sucht Orte auf, die kaum bekannt sind: Wie sieht es in der Mikro­nation Akhzivland aus, südlich der Blauen Linie zwischen Libanon und Israel? Wie leben die Bewohner von Karakalpakstan, einer autonomen Republik in Usbekistan? Auf einer einsamen Vulkaninsel im Südpazifik lernt Gastmann die Nachfahren der Bounty-Meuterer kennen, die ihn zum Bleiben bewegen wollen. In Schweden besucht er die republikanische Monarchie Ladonien, die eine eigene Währung und zwei Nationalhymnen besitzt. Ihre Amtssprache: Latein. Ungewöhnlich? Durchaus. Doch "unentdeckt" sind diese Orte nicht.

Einem ähnlichen Thema widmet sich der britische Geograf Nick Middleton in "Atlas der Länder, die es nicht gibt" (Quadriga, 240 S., 32 Euro). Meisterhaft illustriert, mit einzeln gestanzten Karten, stellt das Buch 50 weitgehend unbeachtete Staaten vor. Sie besitzen zwar viele Eigenschaften eines echten Landes, jedoch keine Vertretung in der UN-Generalversammlung. Minerva, Pontinha und Forvik gehören dazu, Somaliland, Grönland, das Fürstentum Hutt River und ­Lakotah. Die Auswahl war kompliziert, wie Middleton zugibt. Sie lenkt den Blick auf die scheinbar klare und doch schwierige Frage, was ein Land, einen Staat, eine Nation ausmacht.

100 Jahre alt ist der Reisebericht des spanischen Journalisten Gaziel (1887 – 1964). Seine Erlebnisse, die er im Herbst 1915 als Kriegsberichterstatter niederschrieb, liegen mit "Nach Saloniki und Serbien. Eine Reise in den Ersten Weltkrieg" (Berenberg, 272 S., 25 Euro) bald zum ersten Mal auf Deutsch vor. Per Schiff, Bahn und Auto: Der Weg des damaligen Philosophiestudenten führte von Paris über Italien und Griechenland bis ins heutige Mazedonien. Auf dem Balkan sah Gaziel mit Grauen das Elend der Flüchtlinge. Ein direkter und leidenschaftlicher Augenzeugenbericht, dazu erschreckend aktuell.

Aus dem Jahre 1874, lange bevor die Insel der Deutschen Lieblingsziel wurde, stammt das großartige und umfangreiche Mallorca-Porträt Ludwig Salvators, Erzherzog von Österreich-Toskana. In diesem bibliophil gestalteten Band ("Mallorca", Corso, 480 S., 68 Euro), der auch die Aquarelle der Erstausgabe wiedergibt, entsteht ein Panorama, das die bis ­heute fortwirkende Anziehungskraft der ­Baleareninsel erklärt.

Faktenreich und unterhaltsam wandert Manuel Andrack in "Schritt für Schritt" (Piper, 304 S., 19,99 Euro) auf 16 Wegen der Weltgeschichte: im Neandertal, in ­Galiläa, durch sächsische Schluchten, auf den Schlachtfeldern Verduns. Als römischer Legionär marschiert er zwischen Trier und dem Rhein, folgt den Spuren der Revolutionäre von Paris nach Versailles. Wanderlust und historische Sachkenntnis verbindend, beweist Andrack, dass Gehen das Denken beflügelt. Und dass Landschaften und Orte immer noch am besten zu Fuß erkundet werden. Sei es mit oder ohne Smartphone.