Neu im Regal - Lesetipp der Woche

Im Bauch von Amazon

3. März 2015
von Börsenblatt
Mit ihrem Text "Saisonarbeit", einem radikal subjektiven und doch hoch politischen Erfahrungsbericht über ihre Zeit bei Amazon, hat die Leipziger Autorin Heike Geißler womöglich das Buch der Stunde geschrieben. 

Amazon, der weltgrößte Online-Händler, ist ins Gerede gekommen, vielleicht sogar in Verruf. Vom Wachdienst schikanierte Saisonarbeiter, Streiks unter anderem in den Logistikzentren Leipzig und Bad Hersfeld, Buchhändler, Autoren und Verleger, die gegen die erdrückende Marktmacht des Online-Riesen protestieren. Kaum ein Tag, da die Firma von Jeff Bezos nicht in den Schlagzeilen ist. Enthüllungen über die Praktiken von "Mr. Gnadenlos" haben Konjunktur; die Empörung führt auch auf diesen Seiten zu verlässlich hohen Klickzahlen.

Wenn Heike Geißler zu Beginn ihres Erfahrungsberichts über ihre Zeit als Saisonarbeiterin bei Amazon die Frage aufwirft, ob es hier "um Leben und Tod" geht, möchte man beschwichtigend die Arme heben: Mal halblang, liegt einem auf der Zunge, und: Ganz so heiß wird die Sache wohl nicht gegessen? Ganze Regalmeter mit Berichten und Reportagen zum Thema existieren mittlerweile, im Mai ist im Pariser Verlag Fayard ein Buch mit dem Insider-Bericht eines Journalisten erschienen, der im Vorweihnachtsgeschäft bei Amazon gejobbt hat (Jean-Baptiste Malet: "In Amazonien − Eingeschleust in die beste aller Welten"). Bei Fayard ging es, klar, um miese Arbeitsbedingungen − um Leben und Tod eher nicht.

Die 1977 in Riesa geborene Autorin, die 2002 mit dem Roman "Rosa" (DVA) debütierte, bohrt tiefer. Schon nach wenigen Seiten ist mit Händen zu greifen, dass sie die Strukturen unserer, nun ja: Dienstleistungsgesellschaft in den Blick nimmt; Strukturen, an denen "Kopf und Herz" Schaden nehmen. Es geht um die Arbeit bei Amazon − und darum, dass "mit dieser Arbeit und vielen Sorten Arbeit grundsätzlich etwas faul ist": Amazon als Fallbeispiel.

In elf Kapiteln − vom ersten Vorstellungstermin bis zum vorzeitigen Abbruch der Beschäftigung − macht Geißler den Leser zum Komplizen ihrer Beobachtungen und Gedanken: "Sie gehen los, ich begleite Sie und sage Ihnen, wie alles ist und was Ihnen passiert. Sie sind ja jetzt als ich unterwegs." Ein rhetorischer Trick, aus dem der Text seine Dynamik bezieht. Was, mit rutschender oranger Warnweste, wie ein Ausflug, ein Abenteuer beginnt − Einblicke in ein Unternehmen zu bekommen, dem man gewöhnlich nur im Netz begegnet − wird für die Autorin in Geldnot sehr bald zum bedrückenden, alle Lebensbereiche infizierenden Alltag. Im Bauch des Unternehmens ist Distanz kaum möglich.

Geißler ist eine Genauigkeits-Fanatikerin, der die Abgebrühtheit des kühlen Möchtegern-Wallraffs fehlt. Ihre Verletzbarkeit ist ihr Potenzial. Mit seismografisch genauem Blick registriert sie die Zurichtungen der Arbeitswelt: Die "Mitarbeitergespräche" zwischen Fahnenappell und Motivationskreis, die subtile Hackordnung von den Klemmbrett tragenden Chefs bis hinunter zur Leiharbeiterin mit 6,75 Euro Stundenlohn, das entwürdigende Gedrängel an der Stechuhr, hastig verschlungene Pausen-Mahlzeiten, die Toilette als unbeobachteter Zufluchtsort. Zarte Zeichen von Solidarität und die üblichen Sprüche, natürlich: Das Leben ist kein Ponyhof. Der untaugliche Versuch, sich hellwach zur Kinderschlafenszeit in einen "vernünftigen Arbeitnehmerschlaf" zu begeben − und das Gefühl bleierner Müdigkeit, das dennoch nicht vergehen will.

In ihrem Text, der die Grenzen zwischen Literatur und Journalismus, Erzählung und Reportage sprengt, gelingt Geißler das Kunststück, mit den Mitteln der Sprache das Politische ins Persönliche zu holen. Auf die Frage, wie sich Erwerbsarbeit so gestalten ließe, dass sie "möglich und nicht tödlich" ist, hat auch sie keine Antwort. Kraft wächst ihr aus den Büchern zu. Nicht unbedingt aus den Tonnen Vampir-Romanen und albernen Ratgebern, die täglich durch ihre Hände gehen. Es sind Gedanken von Hannah Arendt, Friederike Mayröcker, Helga M. Novak, die kleine Leuchtfeuer der Hoffnung setzen – und natürlich auch ein Satz von Elfriede Jelinek: "Wer lebt, stört." Uns Leser entlässt Heike Geißlers schmales, großartiges Buch nachdenklich − und sehr lebendig.

 

Heike Geißler: Saisonarbeit. Spector Books/Volte #2, 270 Seiten, 14 Euro