Neu im Regal - Lesetipp der Woche

Der Kosmos von Abidjan

3. März 2015
von Stefan Hauck
Überschäumende Lebensfreude, Schwierigkeiten mit Freunden und Familie, Liebschaften, Arbeitslosigkeit, Aufbrüche, Migration, der Kampf zwischen Tradition und Moderne: „Es ist mächtig was los!“, urteilt die französische Schriftstellerin Anna Gavalda über das grafische Epos „Aya“. Jenseits der Klischees zeigt Marguerite Abouet ein Afrika der 1980er Jahre mit sympathischen Protagonisten, die sich in Abidjan an der Elfenbeinküste und Paris ein Leben aufzubauen versuchen.

Im Mittelpunkt stehen die drei Freundinnen Aya, Bintou und Adjoua mit ihren Familien. Mädchen, die die Liebe oder einen Ernährer suchen, schlitzohrige Jungs, die ihren Platz im Leben nicht finden, reuige Väter mit Geliebten, starke Frauen – bei Abouet finden sich alle wieder, vom auf Wunder hoffenden Nichtsnutz über von Karriere träumenden und an Schönheitswettbewerben teilnehmenden Mädchen bis zum neureichen Firmenboss. Da gerieren sich Stammtischbrüder patriarchalisch und haben in Wirklichkeit die Hosen längst an ihre Frauen abgegeben, die durch ihre Berufe Teilautonomität erlangt haben. Große und kleine Schicksale durchziehen die Geschichten, stets durchbrochen von Situationskomik. Optimismus kämpft gegen Pessimismus, und im wiederkehrenden Schlamassel ist die Titelheldin, die 19-jährige Aya, der überlegt handelnde Pol, bei der sich viele Rat holen. Gerechtigkeitsliebend, nachdenklich, ausgleichend, geht sie von Zeit zu Zeit explosiv an die Decke, um kathartische Entwicklungen einzuleiten. Aya repräsentiert ein weltoffenes Afrika, verteidigt Liberalität gegen althergebrachte gesellschaftliche Regeln; dabei sind viele der geschilderten Probleme keineswegs anders als in Europa. Die in Abidjan geborene Abouet und ihr genialer Zeichner Clément Oubrerie setzen die Figuren sympathisch in Szene und führen den Leser durch ständige Perspektivwechsel immer näher an die Denkweisen und Gefühle der einzelnen Figuren heran – Verhaltensweisen, Nöte, Ängste, Peinlichkeiten werden differenziert erklär- und nachvollziehbar.

In konzentrischen Kreisen bewegen sich Menschen um Aya, Bintou und Adjoua. Der Leser verfolgt mit zunehmender Spannung die Lebenspläne, die Geschichten werden in dieser anspruchsvollen Graphic Novel einerseits so leicht wie in einer Soap vorangetrieben, mit beredter Mimik und Wortwitz, aber diese Leichtigkeit braucht es auch, um mit der Schwere von Existenzbedrohung und Identitätssuche ein Gleichgewicht zu finden. Gut, dass Reprodukt die sechs in Frankreich erschienenen Bände nun in zwei dicken Ausgaben zusammengefasst hat, denn von Band zu Band rundet sich der Abidjan-Kosmos. Schreiend komisch und zutiefst berührend zugleich – eine Graphic Novel mit von Seite zu Seite wachsender Sogwirkung.

Marguerite Abouet, Clément Oubrerie: „Aya“. Reprodukt, Bd.1 "Aya" mit 360 S., 39 Euro, Bd. 2 „ Aya – Leben in Yop City“ mit 360 S., 39 Euro