Neu im Regal - Lesetipp der Woche

Gegen die Erwartungen der anderen

3. März 2015
von Stefan Hauck
Elf Tage begleitet der Leser Jo, 264 Stunden bis zum Aufbruch, zum 18. Geburtstag, zum neuen Leben auf Kreta. Franziska Moll lässt in einer Kneipe Lebensentwürfe und Gegensätze aufeinanderprallen, Schichten und Typen, schlägt Worte wie Nägelchen in Leerstellen - analytisch, ironisch, literarisch.

Zunächst: Lesen Sie bloß nicht die Klappentexte und die U4. Sie nehmen sich Spannung, das schrittweise Entschlüsseln und würden ein süßliches Dramolett erwarten. Das ist der Roman keineswegs. Er ist besser. Viel besser. Franziska Moll bringt Themen wie Lebensziele, Traumata, Flüchtlingsproblematik und illegales Arbeiten zusammen, spielt mit Erwartungshaltungen und Sinnfragen, bringt das Gehirn des Lesers Satz für Satz auf Betriebstemperatur, bis er sich Fragen stellt – je näher er die Figuren kennenlernt, um so mehr.

Moll schildert das kleine Restaurant „Paradies“ als Mikrokosmos voller Gegensätze, mit einem bauernschlau-unfähigen Besitzer, der nur El Cheffe genannt wird, einer zweiten Bedienung in Jos Alter, Bambi, im Beziehungsdrama mit dem Ex-Freund verstrickt, dem Schlafwandler am Zapfhahn, der sich in Bambi verguckt, dem neuen Spüler Amar, dem Koch und den Gästen. So ziemlich das Gegenteil zum Elternhaus von Jo, die hier kellnert, eine „Auszeit nimmt“, wie ihre Mutter es formuliert und dabei zu kaschieren versucht, dass ihre Tochter überhaupt keine Lust mehr hat, das Abitur zu machen und den Erwartungen der anderen zu entsprechen.

Johanna, genannt Jo, stammt aus „gutem Hause“, Vater Medizinprofessor mit Geliebter, Mutter zerstreuungssüchtige Shopperin, die die Kreditkarte glühen lässt, um den Tod ihres Sohnes Julian hinwegzulächeln, was gnadenlos misslingt. Der Versuch, die heitere Fassade einer heilen Welt aufrechtzuerhalten, bringt Jo auf die Palme und zur suizidalen Rebellion, weshalb sie die Eltern zum Psychiater schicken – einen harte Nuss, denn Jo treibt ihr eigenes Spiel, und was der Leser weiß, bleibt dem Arzt ein Rätsel.

Der Koch der Gaststätte ist ein Eigenbrödler mit trockenem Humor, der sich kaum öffnet, aber mit Jo den Traum einer eigenen Kneipe auf Kreta spinnt. Beide legen sie Geld dafür zurück, seine Lebensweisheiten sind es, die Jo psychisch über Wasser halten. An ihrem 18. Geburtstag soll der Neuanfang beginnen, Seite für Seite versteht der Leser mehr, warum sich Jo mit rauem Zynismus der Welt entgegenstellt. Rätseln muss er jedoch genau wie Jo, warum Koch plötzlich nicht mehr erscheint.

Zur Entschlüsselung des Rätsels trägt Amar aus Afghanistan bei, dessen Narben am Körper eigene Geschichten erzählen, die Eltern getötet, über Teheran und Schlepper nach Griechenland, Italien, Paris, Saarbrücken geflüchtet, vorläufige Endstation Frankfurt, immer unerkannt, untergetaucht, als illegaler Spüljunge im Paradies gelandet. Was es mit Koch auf sich hat, was mit Jo und Amar, wie die Welten aufeinanderprallen, das sei hier nicht verraten, es wäre schade um die Spannungskurven. Nur so viel noch, dass Moll meisterhaft auch mit wenigen Worten Atmosphäre zu schaffen versteht.

„Lügner heißt auf Griechisch ΨεÚτης. »Koch zeigt niemanden, wie sein Dressing geht.«

»Hat mir gezeigt.«

»ES.«

»Hat es mir gezeigt.«

»Ach ja?«. Als ob. Als ob Koch ihm. Als ob.“

Und die fortlaufenden ironischen Kaskaden sind großartig.

„Er versteht es nicht. Und ich verstehe nicht, wie Ironie um manche Menschen einen so weiten Bogen machen kann.“

Anfang März wird ausgeliefert – vormerken!

 

Franziska Moll: "Egal wohin". Loewe, 222 S., 12,95 Euro